Die promovierte Biologin Martina Schraudner leitet das Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation und lehrt an der Technischen Universität Berlin.

Die promovierte Biologin Martina Schraudner leitet das Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation und lehrt an der Technischen Universität Berlin.

Gemeinsam für Biotechnologie

Lesezeit 5 Minuten

Die Molekularbiologin und Wissenschaftstheoretikerin Martina Schraudner über die Notwendigkeit, den Begriff Biotechnologie gesellschaftlich neu zu bewerten.

ERSCHEINUNGSTERMIN07. JANUAR 2022

VonMartina Schraudner

Die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 hat ein Tor geöffnet: Es ist Zeit für eine Neubewertung der Biotechnologie. Der Fakt, dass einer weltweiten Bedrohung wie dem Coronavirus in kurzer Zeit hochwirksame, mit biotechnologischen Mitteln produzierte Impfstoffe entgegengestellt werden konnten, hat bei vielen Menschen einen Denkprozess ausgelöst – auch am Kapitalmarkt und in weiten Teilen der Politik. Es wird nicht nur um Segen und Pflicht des Impfens debattiert – das Label Biotech gilt plötzlich als die Option auf traumhafte Renditen, Regierungen reißen sich um Unternehmen aus dem Sektor, die nach neuen Standorten suchen. Für diese Kreise liegen Biotechnologiefirmen zum Teil noch höher im Trend als die bisherigen Lieblinge aus dem IT-Bereich – vielleicht auch, weil sie die Digitalisierung mit den Lebenswissenschaften kombinieren.

BIOTECHNOLOGIE ALS GEMEINSCHAFTSWERK

Im besten Fall kann Biotechnologie, wenn ihr Nutzen gut vermittelt wird, zu einem Gemeinschaftswerk aus Gesellschaft und Wissenschaft werden: etwa wenn medizinische und genetische Daten geteilt werden, damit aus diesem Wissen passgenauere Diagnosen und Therapien entstehen können. Wir kennen bereits gute Ansätze ­– so die britische UK Biobank und ihr finnisches Pendant FinnGen. Diese unabhängigen digitalen Datenbanken stellen die medizinischen Informationen über rund 500.000 Menschen in den Dienst der Forschung: Daten wie Größe, Gewicht und Blutdruck, aber auch genetische Sequenzen der teilnehmenden Personen. In beiden Systemen erfolgt die Datenspende freiwillig und anonymisiert. Der Zuspruch ist groß. Es entsteht ein Datenschatz, der bereits zu zahlreichen medizinischen Entdeckungen geführt hat.

Dabei gilt für Fortschritte in der Biotechnologie, was für jede Innovation gilt: Innovationen sind nicht per se gut. Sie müssen gesellschaftlich eingeordnet, bewertet und schließlich reguliert werden: Welche Anwendungen werden gesellschaftlich gewollt und getragen? Bei welchen herrscht breiter Konsens über den Nutzen und Mehrwert, den sie im Verhältnis zu potenziellen Risiken stiften? Gibt es ethisch begründete rote Linien? Vor welchem Hintergrund, in welcher Einbettung und mit welchem Ziel sollen Biotechnologien entwickelt und genutzt werden?

Die Beantwortung dieser Fragen würden viele Menschen gerne an Politik und Regulierungsbehörden delegieren. Doch wer zuvorderst bei der Regulierung ansetzt, greift zu kurz. Jede Regulierung muss auf der Basis eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses stehen. Nur so kann es gelingen, einen breiten Konsens zu den zentralen Fragen zu erzielen. Und nur ein solcher Konsens bietet allen Akteuren im Biotechnologiesektor den verlässlichen Handlungsrahmen, den sie zur Ausrichtung ihrer Forschung und Investitionen benötigen.

Aktuelle Belege für die Notwendigkeit einer solchen Diskussion gibt es zuhauf. Bei den Methoden punktgenauer Genom-Edi­tierung stehen wir zum Beispiel ganz am Anfang der Diskussion. Vor zwei Jahren entschied der Europäische Gerichtshof: Genomeditierte Pflanzen fallen in der EU unter die Regulierungen, die seinerzeit mit Blick auf klassische Gentechnik entstanden sind. Dabei ist, wissenschaftlich betrachtet, die gezielte genetische Veränderung von Pflanzen effizienter und auch sicherer als ungerichtete Verfahren der Mutagenese und Züchtung. Die Richter haben etwas rechtlich innerhalb des bestehenden politischen Rahmens klargestellt. Doch die wissenschaftliche Grundlage hat sich inzwischen weiterentwickelt, sodass auch der rechtliche Rahmen einer Neubewertung unterliegen könnte. Was wir als Gesellschaft wollen, kann nur im breiten Diskurs geklärt werden.

Solche notwendigen Debatten können nur in Gang kommen, wenn die Kommunikation über Biotechnologie besser wird und vor allem zwei klassische Fehler nicht begangen werden: erstens mögliche Widerstände durch gepflegte fachliche Langeweile vermeiden zu wollen und zweitens mittels Dramatisierung, Übertreibung und Verkürzung die Menschen beeinflussen zu wollen. Moderne Technikkommunikation im Allgemeinen kennt diese Sackgassen. Mal tritt sie verlegen von einem Bein auf das andere, vermeidet, was schwer verdaulich sein könnte, nutzt Schlagwörter und unbestimmte Bilder. Oder sie überzeichnet, bis der wohlige Schauder in besorgtes Stirnrunzeln übergeht: „Vierte industrielle Revolution!“ – „Technologische Singularität!“ – „Nanoroboter!“ Das Klonschaf Dolly und spätere Übertreibungen der Klonforschung sind anschauliche Beispiele aus der Biotechnologie.

Aktuell überwiegt in der Biotechnologiekommunikation das Spiel auf Sicherheit. Etwa in einer Veranstaltung der Bundesregierung zur Bioökonomie: Eine PR-Agentur hatte sich vielfältige, bunte Kommunikationsformate zu dem Thema ausgedacht. Bloß ein Begriff fehlte ganz. Biotechnologie. „Wieso?“, fragte ich einen Mitarbeiter der Agentur. „Das Wort“ – er nahm es nicht in den Mund – sei „schwer vermittelbar“. Aktuell in Europa gebräuchliche Schlagwörter wie Bioökonomie, Green Deal oder Farm2Fork geraten so schnell zu luftigen Substituten.

LABORFLEISCH ODER FLEISCHALTERNATIVEN?

Zugegeben, die Wortkombination aus „Bio“ und „Technologie“ ist nicht ohne. PR-Agenturen arbeiten aus gutem Grund lieber mit Bildern von Algen, Spinnweben, Löwenzahn oder nachhaltiger Kleidung. Wie mächtig das Framing ist, also das Nutzen bestimmter Formulierungen zum Erzielen einer bestimmten Wirkung, zeigen viele Studien und Umfragen. In Deutschland belegt es etwa unsere repräsentative TechnikRadar-Studie zu allen Aspekten der Bioökonomie. Zwei von drei Deutschen gaben dort an, dass Laborfleisch keine gute Sache sei. Anders fällt der Befund aus, wenn man nach Fleischalternativen fragt.

Dies ist jedoch kein Plädoyer für übertriebenes Weichzeichnen. Das schadet am Ende oft mehr, als es nützt, da es den Blick auf die Realität verstellt. Im Rahmen der TechnikRadar-Studie zeigten viele Menschen eine tief sitzende Sorge vor einer „Entfremdung von der Erzeugung ihrer Nahrungsmittel“. Offenbar entkoppeln sich – auch durch die verwendeten Begriffe – die Vorstellungen der Menschen darüber, wie landwirtschaftliche Produkte entstehen, von der Wirklichkeit. Es ist zum Beispiel ein gepflegtes Vorurteil, dass ökologisch erwirtschaftete Produkte per se nachhaltig sind und konventionelle nicht. Dabei müsste mithilfe von Wissenschaft und (Bio-)Technologie eigentlich das Beste aus ökologischem und konventionellem Landbau weiterentwickelt werden, um die Ernährung der Menschheit zu sichern.

NEUE WEGE DER KOMMUNIKATION

Nicht jede Biotech-Innovation kann so groß und wichtig sein wie die mRNA-Technologie. Doch auch jeder kleinere Innovations­erfolg birgt eine neue Chance auf kluge, offene Kommunikation, mit Ecken und Kanten. Wenn die Treiber der Innovation es schaffen, nahbar zu werden und Biotechnologie sogar zu einem Gemeinschaftswerk zu machen, dann würde der Weg frei für eine gesellschaftliche Neubewertung – und in der Folge für eine Regulierung, die Biotechnologie einen innovationsfördernden Rahmen gibt. Im Dienst von Mensch und Umwelt.

Vielleicht ist es nicht – mehr – nur die Risikoabwägung, also die Frage nach dem Nutzen und den möglichen Risiken, die die Kommunikation über neue Technologien bestimmen sollte. Vielleicht ist es vielmehr die Frage, vor welchem Hintergrund, in welcher Einbettung und mit welchem Ziel Technologien genutzt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Zeit reif für eine gesellschaftliche Neubewertung der Biotechnologie. Ihr Nutzen wurde mit der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen öffentlich unübersehbar. Aber erst eine mutigere, offenere Kommunikation ermöglicht einen Wandel. Stellungnahmen und Klarstellungen werden nötig – ohne die Risiko­diskussion zu umgehen.

Eine neue Chance für die Biotechnologiekommunikation eröffnet die fortschreitende Dezentralisierung der Branche, geprägt durch spannende Start-ups. Die Verfügbarkeit von Gründungskapital, der Preisverfall in der Modellierung und Synthese von Nukleinsäuren und die Kombination von Methoden aus Chemie, Biotech, KI und Industrie 4.0 führen zu diesem Strukturwandel. Gerade im Nahrungsbereich hat sich ein blühendes Ökosystem innovativer Gründungen gebildet. Die Start-ups zu Gärung oder Fermentation, zu neuen Craftbieren und veganen Spezialitäten können Botschafter einer Biotechnologie im Dienste von Vielfalt und Nachhaltigkeit sein.

Foto: Harald Reusmann / Evonik

 

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