Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

DIE WELT 2040 – SZENARIEN FÜR DIE ZUKUNFT

Lesezeit 10 Minuten

Wie die Welt von morgen aussieht, ist ungewiss. Welche Trends werden sich durchsetzen, welche Produkte gefragt sein? Zukunftsforscher helfen Unternehmen mittels Szenarien, sich auf unterschiedliche denkbare Entwicklungen vorzubereiten und bereits heute passende Strategien zu entwickeln.

TEXTMICHAEL PRELLBERG

ILLUSTRATIONDAVE HÄNGGI

Werden Autos statt mit Verbrennungsaggregaten mit Elektromotoren bestückt, ändert sich mehr als der Antrieb. Auch die Infrastruktur wird durcheinandergewirbelt, und das wirft Fragen auf: Wo laden wir die Fahrzeuge auf, und wie lange dauert das? Gibt es ausreichend Ladestationen, damit wir unterwegs nicht liegen bleiben? Haben wir genügend Rohstoffe für die E-Batterien? Brechen Stromnetze zusammen, wenn alle gleichzeitig ihr Auto aufladen? Und falls die Brennstoffzellentechnologie entscheidende Ent­wicklungsschübe erlebt – was dann?

Ehrliche Antwort: Wir wissen es nicht. Wir können es nicht wissen. Aber wir können das Ganze durchspielen mithilfe von Was-wäre-wenn-Szenarien, also mit Bildern von möglichen Entwicklungen. Auch wenn sie nie zu 100 Prozent eintreffen werden, haben solche Szenarien für Unternehmen durchaus Wert: Sie ermöglichen ihnen, sich vorzubereiten auf das, was kommen könnte. Die Welt wird schnelllebiger und komplexer, und Unternehmen stellen sich darauf ein. Die Zukunft verweigert sich jedem linearen Weiter-so, Brüche – heute meist Disruptionen genannt – gehören dazu.

ZIEL: AUF ZENTRALE ENTWICKLUNGEN VORBEREITET SEIN

In Konzernen kümmern sich häufig eigene Corporate-­Foresight-Abteilungen um solche Zukunftsfragen. „Der Wert von Corporate Foresight liegt darin, dass sich Unternehmen auf Entwicklungen vorbereiten können und nicht kalt erwischt werden“, sagt Cornelia Daheim, Inhaberin von Future Impacts, einer in diesem Feld spezia­lisierten Beratungsfirma. Der Blick nach vorn fällt Unternehmen indes mitunter schwer. Als Beraterin bei Foresight-Projekten sieht Daheim ihre Hauptaufgabe darin, „Grundannahmen zu hinterfragen und das Undenkbare zu denken“. Und das gleich in verschiedenen Varianten, sprich Szenarien. Eine echte ­Herausforderung, so Daheim: „Das Selbstverständliche nicht länger als selbstverständlich zu nehmen, das muss sich ein Unternehmen erst einmal trauen.“

Dieser Mut wird jedoch belohnt, denn er erweitert den Horizont und öffnet die Augen für ungeahnte Chancen und Risiken. Björn Theis, Foresight-Manager bei Evonik, erklärt das am Beispiel der Mobilität. Was würde etwa passieren, wenn in Zukunft selbstfahrende Autos verfügbar wären? Die Wirtschaft wäre mit dieser Technologie in der Lage, die Effizienz von Warentransporten zu steigern. Im Privaten könnte sich der Trend verstärken, Fahrzeuge gemeinschaftlich zu nutzen: Besitzer autonomer E-Mobile vermieten ihr Fahrzeug ­bequem per App an andere, wenn sie es gerade nicht benötigen.

In einem solchen Szenario nähme die Laufleistung der Autos pro Tag und damit auch der Verschleiß von einzelnen Bauteilen deutlich zu, und wegen der Vielzahl unterschiedlicher Nutzer entstünde ein größeres Interesse an antibakteriellen und hygienischen Innenraummaterialien, spinnt Theis den Faden weiter. Die Materialien, die in den Robo-Taxis der Zukunft verbaut würden, müssten neuen Anforderungen genügen. Für den Evonik-Konzern, der als Spezialchemieunternehmen Produkte in die Automobilzulieferindustrie liefert, bedeutet ein solches anderes Mobilitätsverhalten Veränderungen des Marktes, die es zu erkennen gilt.

VOM SCHWACHEN SIGNAL ZUM TREND

Das Geschäft der Zukunftsforscher ist komplex und viel­schichtig. Es erfordert vor allem eins: die Fähigkeit zum ganzheitlichen Denken. Theis studierte Ethnologie, bevor er sich der Zukunftsforschung widmete. 2014 kam er zu Evonik, zuvor hatte er für eine Unternehmensberatung im Bereich der Corporate Foresight gearbeitet und geholfen, den Studiengang Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin aufzubauen.

Bei Evonik verknüpft Corporate Foresight gesellschaftliche, technologische, ökonomische, ökologische und politische Trends sowie deren mögliche Auswirkungen zu ganzheitlichen Zukunftsszenarien und leitet von diesen Chancen und Herausforderungen für den Konzern ab. Zum Beispiel beim Thema Digitalisierung: „Sie ist als wichtiger Trend nicht zu übersehen und damit auch ein starker Einflussfaktor für die Zukunft der Spezialchemiebranche“, sagt Theis. Doch was bedeutet das für Evonik konkret? Um das herauszufinden, sprechen Foresight-Mitarbeiter mit Experten, die sich mit den unterschiedlichen Facetten der digitalen Transformation beschäftigen. Welchen Einfluss wird künst­liche Intelligenz künftig nehmen? Was wird sie leisten? Und wo wird sie eingesetzt? Welche Rolle werden Robotik, Kryptowährungen oder Virtual Reality in der chemischen Industrie spielen? Fragen über Fragen – für die Theis und sein Team nach möglichen Antworten suchen.

Björn Theis, Foresight Manager bei Evonik

»Wir müssen das große Ganze herunterbrechen.«

BJÖRN THEIS

FORESIGHT MANAGER BEI EVONIK

Plausible und konsistente Szenarien zu erstellen ist ein aufwendiger und langwieriger Prozess. Unzählige Faktoren müssen analysiert und miteinander in Verbindung gesetzt werden. Und das machen die Foresight-­Experten keineswegs nach Gefühl und Wellenschlag. So hat die Zukunftsforschung über Jahrzehnte Methoden entwickelt, um Trends zu identifizieren und zu analysieren. „Trends sind sicher und empirisch nachweisbar: Ich weiß, wie sich etwas entwickelt“, sagt Andreas Neef, Managing Partner der Unternehmensberatung Z_Punkt, für die auch Björn Theis früher gearbeitet hat. Bei mancher Reihung von Phänomenen handelt es sich nur um sogenannte schwache Signale. „Das sind Einzelereignisse, die lediglich Vermutungen zulassen“, erklärt Neef. Erst wenn mehrere schwache Signale zusammenkommen, entwickeln sie sich langsam in Richtung eines Trends.

Doch selbst wenn die Forscher einen solchen Trend ausgemacht haben, ist oft unklar, was daraus wird. „Die Grundgefahr besteht immer darin, gewisse Entwicklungen zu über- oder zu unterschätzen“, sagt Neef und nennt als Beispiel die „Fridays for Future“-Schüler­demos: Ist das ein Strohfeuer, oder werden sich die Demonstrationen zu einer globalen Bewegung ausweiten? Es bleiben viele sogenannte kritische Unsicherheiten, die miteinander interagieren.

Um diese Interaktion abzubilden, arbeiten Zukunftsforscher unter anderem mit der „explorativen Szenariomethode“: Sie erstellen konkrete und konsistente Bilder davon, wie die Welt in Zukunft aussehen könnte. „Ein Szenario versucht, die Vielzahl der verschiedenen Entwicklungen miteinander abzugleichen und auch Wechselwirkungen einzubeziehen“, sagt Neef. „Weil das nie umfassend gelingen kann, betrachten wir immer mehrere Szenarien, die bestimmte Aspekte stärker oder schwächer gewichten und deren Eintreten wir für mehr oder weniger wahrscheinlich halten.“ Die Unternehmen wählen dabei nicht aus den angebotenen Szenarien aus, „sondern leiten aus allen Szenarien eine möglichst robuste Strategie ab“. In diesem Zusammenhang bedeutet „robust“: Egal welches Szenario sich durchsetzt – das Unternehmen kann sich darauf vorbereiten.

Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

INNOVATIONEN FRÜHZEITIG ANSTOßEN

Mit dieser Methode helfen auch Foresight Manager ­Theis und seine Kollegen Evonik, Innovationen frühzeitig und zielgerichtet anzustoßen, langfristige Strategien zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Fünf Szenarien für die Zeit bis 2040 haben die Foresight-Mitarbeiter ausgearbeitet: Im Szenario „Digital Champions“ greifen die großen Internetkonzerne mit ihrem Wissen und ihrer Art zu denken zunehmend die Wertschöpfung der klassischen Industrien ab. Das Szenario „Sustainability Paradigm“ beschreibt, wie Nachhaltigkeit zum bestimmenden ökonomischen Prinzip wird. In „Chinese Dream“ entwickelt sich China zur technologischen, ökonomischen und politischen Weltmacht. Nationalismus, Fake News und populistische Kräfte führen im Szenario „Turbulent Times“ zu einer anhaltenden Deglobalisierung. Aus einer weiteren Perspektive blickt das Szenario „Deceptive Calm“ auf die Zukunft: In einem System des Weiter-wie-bisher stauen sich die Probleme auf und führen womöglich zum Kollaps.

Cornelia Daheim, Inhaberin der Beratungsfirma Future Impacts

»Das Selbstverständliche nicht länger als selbstverständlich zu nehmen – das muss sich ein Unternehmen erst einmal trauen.«

CORNELIA DAHEIM

INHABERIN DER BERATUNGSFIRMA FUTURE IMPACTS

Auf dem Tisch also fünf alternative Entwicklungen, die mittel- bis langfristig relevant für das Geschäft von Evonik werden könnten – Theis spricht in diesem Zusammenhang von „Zukünften“: „Wir machen hier ­keine Voraussagen, es gibt nicht die eine Zukunft.“ Die fünf Szenarien der Evonik-Forscher bilden den Options­raum für das, was kommen könnte. Jede Va­riante basiert auf plausiblen, sehr gut begründeten Annahmen und ist in vier Schritten schlüssig hergeleitet.

Am Anfang des Szenarioprojekts stand die Frage: Welche großen Kräfte werden langfristig auf Unternehmen der Spezialchemie einwirken? „Wir schauen auf die großen Wirkkräfte der Welt“, sagt Theis. Dazu wurden in den zurückliegenden Monaten mehr als 100 interne und externe Experten aus Wissenschaft, Politik, und Wirtschaft befragt, internationale Zukunftsstudien ausgewertet und Workshops durchgeführt. Das Ergebnis war eine Liste mit mehr als 100 Einflussfaktoren für die Spezialchemie – unterteilt in die Themen Ökologie, Politik, Gesellschaft, Technologie und Ökonomie –, die die Zukunft maßgeblich beeinflussen werden.

Im zweiten Schritt wurde die Vielzahl der Einflussfaktoren reduziert, indem die Experten daraus Schlüsselfaktoren auswählten. Kriterien dafür: Sie werden einen hohen Einfluss auf die Spezialchemie haben, weisen dennoch häufig eine hohe Unsicherheit bezüglich ihrer künftigen Entwicklung auf und stehen mit vielen anderen Faktoren in Wechselwirkung. Die 25 Faktoren mit der kräftigsten Wirkung bilden das Grundgerüst der Szenarien und wurden ausführlich analysiert und beschrieben. Darunter Themen wie Bevölkerungswachstum, künstliche Intelligenz oder Klimawandel.

„Im dritten Schritt stellten wir uns die Frage, wie sich diese Schlüsselfaktoren in der Zukunft plausibel entwickeln könnten“, erklärt Theis. Pro Schlüsselfaktor wurden zwei bis vier Zukunftsprojektionen abgeleitet, manche mit gegenläufigen Entwicklungen. So ist es etwa denkbar, dass die Biotechnologie samt Gentechnik und künstlichen Organismen weltweit befürwortet wird – oder aber geächtet.

Im vierten Schritt schließlich wurden die Projektionen miteinander in Verbindung gesetzt und gewichtet. In einem Netzwerk von stabilen und plausiblen Beziehungen zwischen den Projektionen entstanden daraus computergestützt die fünf Szenarien.

WETTBEWERBSVORTEILE DURCH PROGNOSEN

Entwickelt wurde die Szenariomethode in den Fünfzigerjahren unter anderem in der RAND Corporation, einem amerikanischen Thinktank, der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden war, um die US-Streitkräfte zu beraten. Später setzten auch Konzerne wie Motorola, General Electric oder UPS Forscher darauf an, die Zukunft leichter kalkulierbar zu machen.

In den Siebzigerjahren erwies sich Corporate Foresight für Shell als echter Wettbewerbsvorteil. Die Manager des Ölkonzerns hatten in mehreren Szenarien durchgespielt, was passieren würde, wenn das Angebot an Rohöl sinkt. Als 1973 die OPEC ein Lieferembargo gegen diverse Industriestaaten verhängte, war Shell vorbereitet und konnte kurzfristig reagieren. Zum Ende der Ölkrise war Shell zum weltweit zweitgrößten und profitabelsten Konzern der Branche aufgestiegen. Dieser Erfolg animierte damals andere Unternehmen, es ebenfalls mit Szenarien zu versuchen. Viele Versuche wurden allerdings abgebrochen: Der richtige Weg zwischen methodischem Over-Engineering und Oberflächlichkeit war offenbar schwer zu finden.

Die Methoden haben sich seither allerdings deutlich weiterentwickelt. René Rohrbeck, Professor an der Universität im dänischen Aarhus und Experte für Corpo­rate Foresight, bedauert jedoch, dass viele Unternehmen auch heutzutage zu zögerlich auf die Herausforderungen der Zukunft reagierten: „Noch so überzeugende Szenarien verfehlen ihren Zweck, wenn sie nicht Eingang in die strategischen Handlungen finden.“

Es seien vor allem drei Gründe, so Rohrbeck, weshalb selbst gutwillige Manager nicht die nötigen Konsequenzen zögen: Viele Unternehmen seien überfordert vom Tempo, mit dem sich Märkte und Kundenwünsche ändern. Die Manager nähmen sich aufgrund der hohen Anforderungen im Alltagsgeschäft keine Zeit, Szena­rien zu diskutieren. Zudem verhielten sich Unternehmen oft wie Tanker: Das Umsteuern dauere lange, ­zumal wenn der Kurswechsel bedeute, aktuell profi­table Geschäftsfelder infrage zu stellen – und das ohne Erfolgsgarantie.

Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

Es gibt nicht nur eine Zukunft. Foresight-Spezialisten entwickeln mehrere „Zukünfte”, für die sich Unternehmen wappnen sollten. Mithilfe der abgebildeten fünf Szenarien, die auf den Folgeseiten beschrieben werden, bereitet sich Evonik fürs Jahr 2040 vor.

SO ENTWICKELT EVONIK ZUKUNFTS-SZENARIEN

1. Erfassung der Umgebung

Grafische Darstellung von Einflussfaktoren
Welche Einflussfaktoren bestimmen die Zukunft der Spezialchemie-Branche?

2. Schlüsselfaktors-Analyse

Grafische Darstellung von Schlüsselfaktoren
Welche Faktoren haben den größten Einfluss und was sind relevante Themenfelder?

3. Projektionsentwicklung

Grafische Darstellung von Projektionen
Wie könnten die einzelnen Faktoren möglicherweise in Zukunft entwickeln?

4. Szenario-Konstruktion

Grafische Darstellung von zwei Zukunftsszenarien
Wie sehen konsistente Kombinationen von Projektionen aus und wie fügen sie sich in Szenarios?

ROBUSTE STRATEGIEN FÜR MORGEN

Bei Evonik wurden die Entscheider in allen Ebenen und Geschäften des Konzerns frühzeitig in die Entwicklung der Szenarien eingebunden. Chief Innovation Officer Dr. Ulrich Küsthardt ist zuversichtlich, dass die Szenarien für die Langfristplanung von Evonik einen großen Nutzen bringen. Schließlich bieten sie eine Basis für Strategien, die auf möglichst viele Eventualitäten eine Antwort liefern. „Das Ideal wäre eine No-Regret-Entscheidung, mit der man garantiert nichts falsch macht“, sagt Küsthardt. Die werde das Unternehmen allerdings auch mit noch so guten Szenarien nicht treffen können. „Wir kennen die Zukunft nicht, wir haben nur fundierte Vorstellungen von dem, was kommen könnte“, so Küsthardt. „Unser Ziel ist es jedoch, möglichst robuste Strategien für die Innovation von morgen und übermorgen zu entwickeln.“

Auf dem Weg dorthin werden die Szenarien von den zuständigen Strategie- und Innovations-Einheiten bei Evonik durchgesprochen. „Da sind wir wie Schachspieler“, sagt Küsthardt. „Wir sehen uns die verschiedenen Optionen an und spielen sie durch.“ Wer auf „Turbulent Times“ vorbereitet sein will, muss sich beispielsweise fragen: Sollten wir regionale und lokale Einheiten stärken? Wie sehen künftige Geschäftsbeziehungen mit Kunden, Händlern und Lieferanten aus, wenn die Welt weniger global integriert ist? Haben langfristige Verträge noch eine Zukunft, oder werden sie kurzfristiger? „Es ist immer eine Frage der Abwägung. Der Diskurs über die Möglichkeiten an sich bringt schon einen Mehrwert für die Beteiligten. Wenn dann noch konkrete Maßnahmen abgeleitet werden, haben wir einen guten Job gemacht“, sagt Theis.

Überzeugungsarbeit für seine Herangehensweise muss der Foresight Manager bei Evonik schon lange nicht mehr leisten. „Die Manager sind Feuer und Flamme, sobald sie erkennen, wie relevant die Szenarien für ihre Arbeit sind“, sagt er. Mittlerweile würden die Corporate-Foresight-­Reports ungeduldig erwartet, berichtet CIO Küsthardt: „Die Manager müssen entscheiden und wollen Handlungen anstoßen. Und das können sie nur, wenn sie um ihre Optionen wissen.“

Andreas Neef, Managing Partner des Beratungsunternehmens Z_punkt

»Die Grundgefahr besteht immer darin, gewisse Entwicklungen zu über- oder zu unterschätzen.«

ANDREAS NEEF

MANAGING PARTNER DES BERATUNGSUNTERNEHMENS Z_PUNKT

Zukunft:
Zeit, die der Gegenwart nachfolgt

Die Zukunft Im Laufe der Geschichte entwickelten sich verschiedene Zukunftsbegriffe: Bis zur Antike herrschte ein zyklisches Verständnis vor: statt an Fortschritt glaubte man an eine Wiederkehr des Vergangenen. Im Mittelalter stellten sich die Menschen Zukunft als das „Herabkommen Gottes“ vor. Die Renaissance, geprägt von den Arbeiten Leonardo da Vincis, brachte dann einen rationalen Zukunftsbegriff hervor, der über die Aufklärung hinweg bis in die westliche Moderne wirkte: die Vorstellung, dass sich die Zukunft linear entwickelt und Fortschritt bringt.

 

Renaissance

Europäische Kulturepoche im 15. Und 16. Jahrhundert, an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit

 

Leonardo da Vinci (1452-1519)

Italienischer Maler, Bildhauer, Architekt und Ingenieur

 

TRÜGERISCHE RUHE

DECEPTIVE CALM

Gegenüber 2020 hat sich die Welt verändert − allerdings nur langsam und in kleinen Schritten. Geopolitisch, technologisch
und gesellschaftlich gab es keine drastischen Verschiebungen. Das bedeutete Stabilität, robustes wirtschaftliches Wachstum und „Business as usual“. Zugleich wurde die Suche für die Lösung der großen globalen Probleme immer weiter hinausgeschoben, sodass die negativen Folgen umso gravierender geworden sind.

Zunächst blieb alles wie gehabt: China hat es nicht geschafft, die USA als domi­nierende Supermacht abzulösen. Der Welthandel florierte, der Wegfall von Handelsbarrieren führte zu einer weiteren Zunahme globaler Wertschöpfungsketten. Zahlreiche Entwicklungsländer sind in den zurückliegenden 20 Jahren auf diese Weise zu relativem Wohlstand gelangt. Die globale Mittelklasse ist seit 2020 um drei Milliarden Menschen angewachsen. Umweltfreundliche Konzepte bei Konsum oder Mobilität spielen kaum eine Rolle. Der sorglose Umgang mit Ressourcen, der enge Schulterschluss Öl exportierender Staaten sowie mangelnder politischer Wille bei der Umstellung auf erneuerbare Energie­quellen haben schließlich dazu geführt, dass die Umweltbelastungen zunahmen und die Klimaziele deutlich verfehlt wurden. Die Erde ist weit über ihre Grenzen hinaus ausgebeutet worden. Vor allem die jüngere Generation will die damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Kosten nicht mehr tragen – weltweite Proteste für einen radikalen Kurswechsel und strikte Regulation sind die Folge.

Die etablierten Unternehmen, auch in der Spezialchemie, bringen die wachsende Nachfrage nach ihren Produkten zunächst in eine komfortable Situation. Die klassischen Geschäftsmodelle sind weitgehend intakt. Die Gewinne sprudeln, es entstehen zahlreiche neue Jobs. Innovationen wie 3D-Druck, Lichtfeld-Displays oder Service­roboter haben sich in vielen Bereichen durchgesetzt. Allerdings tritt die Suche nach völlig neuen technischen Lösungen und Materialien sowie umweltfreundlicheren Prozessen hinter Aspekte wie günstige Preise bei hoher Qualität oder eine schnelle, verlässliche Lieferung zurück. Je drastischer jedoch die Folgen des Klimawandels werden, desto radikaler fordern Bevölkerung und Gesetzgeber von den Unternehmen eine ökologische Trendwende.

TURBULENTE ZEITEN

TURBULENT TIMES

Die Welt des Jahres 2040 ist eine degloba­lisierte. Rund um den Globus haben popu­lis­tische und autoritäre Regierungen Demokratie, freie Presse und unabhängige Justiz zurückgedrängt. Die USA haben ihre Rolle als Weltpolizei verloren, und keine andere Supermacht ist ihr nachgefolgt. Nationen streben verstärkt nach ihrem eigenen Vorteil, die internationale Gemeinschaft ist geschwächt. Anstelle der freien Weltordnung ist eine konfliktgeladene, multipolare Ordnung getreten, in der globale Herausforderungen wie der Klimawandel nur unzureichend angegangen werden.

Der innere Zustand vieler Staaten spiegelt dieses Bild wider: Gesellschaften sind stark polarisiert in ihrem Denken und ideologisch zerstritten über den richtigen Weg in die Zukunft. Nichtregierungsorganisationen beeinflussen massiv politische ­Entscheidungen. Rationale Diskussionen sind oftmals kaum möglich, denn Fake News greifen immer weiter um sich.

Technischer Fortschritt wird in wachsendem Maß als Bedrohung wahrgenommen: Die Menschen wehren sich gegen die negativen Auswirkungen von Automatisierung und Vernetzung, etwa Massen­arbeitslosigkeit oder die Zunahme von Cyberkriminalität. Effektive Lösungen für die Folgen digitaler Technologien, Robotik und künstlicher Intelligenz fehlen. In einer Welt voller Spannungen kommt es immer wieder zur Internetkriegen (Cyberwars).

Die Wirtschaft stellt dieses Umfeld vor große Herausforderungen. Der weltweit grassierende Nationalismus führt zu Handelskriegen und zunehmendem Protektionismus. Wichtige Handelsvereinbarungen sind ausgelaufen und wurden durch bilaterale Verträge ersetzt, der Austausch von Waren und Kapital ist streng reglementiert.

In Industrie und Wirtschaft bilden sich nationale Champions heraus. Unternehmen richten ihre gesamten Aktivitäten, von Forschung und Entwicklung über Produktion bis hin zum Vertrieb, stärker lokal aus und suchen noch mehr die direkte Nähe zu Kunden und Rohstofflieferanten. Der Diskurs mit allen gesellschaftlichen Gruppen wird für die Unternehmen schwieriger, bleibt aber unverzichtbar.

NACHHALTIGKEITS-PARADIGMA

SUSTAINABILITY PARADIGM

Nachhaltigkeit hat sich 2040 als bestimmendes Wirtschaftsprinzip und Treiber für Innovation durchgesetzt. Dafür sorgten nicht primär Gesetze und Vorschriften, sondern vor allem Fortschritte in grünen Technologien und die gestiegene Kundennachfrage nach nachhaltigen Lösungen. So wurde gleichzeitig die ökologische Wende geschafft und der Klimawandel deutlich gebremst – dank Digitalisierung, Biotechnologie und günstigem Strom aus erneuerbaren Quellen.

Digitale Lösungen haben die Entwicklung, Einführung und Kontrolle nachhaltiger Produkte und Prozesse in erheblichem Maß beschleunigt. Biotechnologie entwickelt sich zu einem der wichtigsten Schrittmacher, auch in industriellen Prozessen. Viele Chemikalien lassen sich 2040 wirtschaftlich lohnend mithilfe von modifizierten Mikroben aus Biomasse her­stellen. Die Welt ist auf dem Weg, das Ölzeitalter hinter sich zu lassen und eine zirkuläre Bio-Ökonomie aufzubauen. Strom aus erneuerbaren Quellen ist mittlerweile so günstig, dass er vielerorts andere Energieträger in Verkehr und Industrieprozessen abgelöst hat. Bei der Produktentwicklung wird zunehmend auf Rezyklierfähigkeit geachtet, sodass sich die Kreislaufwirtschaft immer stärker durchsetzt. In einer Welt, in der ökologische Produkte in Massen gefertigt werden, gilt Nachhaltigkeit nicht länger als Kostenfaktor. Sie erschließt Unternehmen vielmehr zusätzliche Einnahme­möglichkeiten und bietet die Chance, sich vom Wettbewerb zu differenzieren. Sämtliche Stakeholder – Aktionäre, Mitarbeiter und Kunden – erwarten von Unternehmen, dass sie dieser Marschroute folgen.

Die Wirtschaft hat ihren CO2-Fußabdruck erheblich verkleinert und arbeitet zugleich profitabler als zu „fossilen“ Zeiten. Eine Innovation hat nur dann eine Chance auf dem Markt, wenn sie verträglicher ist als die vergleichbare Lösung. Die Beschaffung von Biomasse wie Holz, Stroh oder Algen wird immer wichtiger. Um die Versorgung zu sichern, integrieren sich einige Chemieunternehmen rückwärts in die Land-, Forst- oder Algenwirtschaft. Um Transportwege zu verkürzen, rücken sie ihre Anlagen vielfach näher an Energiequellen, Lieferanten oder Kunden heran. Dezentralisierung ist das Gebot der Zeit.

DER CHINESISCHE TRAUM

CHINESE DREAM

2040 hat China die global bestimmende Rolle zurückerobert, die es historisch bereits über weite Zeiten eingenommen hatte. Kulturell, politisch, militärisch und in Fragen des Umweltschutzes gibt das Reich der Mitte international den Ton an. Schrittweise hat es Einfluss und Macht ausgebaut: zunächst in Asien, dann westwärts entlang der neuen Seidenstraße bis hin nach Europa und schließlich weltweit. China ist zu einer globalen Supermacht aufgestiegen.

Noch nie war eine Volkswirtschaft so erfolgreich: Die zielgerichtete Industrie­politik hat chinesische Konzerne effizient gefördert sowie Wissenschaft und neue Technologien massiv nach vorn gebracht. Die chinesische Wirtschaft hat ihre Chance genutzt: Erfahrungen und Erfolge auf einem wachsenden Binnenmarkt sowie ihr technologischer Vorsprung haben heimische Unternehmen zu ernsthaften Wettbewerbern für westliche Konzerne auf dem Weltmarkt heranreifen lassen. „Made in China“ ist zum Qualitätsmerkmal geworden.

Das Land ist führend in nahezu allen relevanten Technologiefeldern – künstlicher Intelligenz, Robotik, Biotech­nologie, E-Mobilität und Umweltschutz. Die Regierung hat außerdem die Chance der Digitalisierung erkannt – und genutzt: Drei chinesische Konzerne dominieren das stärkste digitale Wirtschaftssystem der Welt. Zugleich hat China seine ökonomischen und sozialen Strukturen umgebaut: CO2-arme Lebensweisen, Umweltschutz, grüne Technologien und Erzeugnisse, saubere Produktion und Energie werden gezielt gefördert. China ist so zur ersten ­Ökozivilisation der Welt geworden. Die etablierten Industrien der westlichen Welt sehen sich zum einen neuen starken Wettbewerbern gegenüber, zum anderen können sie vom weiter wachsenden chinesischen Markt profitieren. Sie müssen sich dafür allerdings noch mehr auf die Kunden in China einstellen, mit dortigen Unternehmen kooperieren. Nur dann können sie wirklich von der Innovationskraft profitieren. Sprache und Denkweise der neuen alten Supermacht halten auch in westlichen Unternehmen Einzug.

DIGITALE CHAMPIONS

DIGITAL CHAMPIONS

Die globalen digitalen Champions haben ihr Wissen und ihre gut gefüllten „Kriegskassen“ genutzt, um in traditionelle Branchen vorzudringen. Mit ihrem Know-how besetzen sie die Schnittstelle zu deren Kunden und sichern sich damit erhebliche Teile der Wertschöpfung der alten Industrien. Unternehmen arbeiten zugleich verstärkt in horizontal vernetzten Ökosystemen zusammen und etablieren neue digitale Geschäftsmodelle. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einer fortschreitenden Individuali­sierung: Angebote können immer passgenauer auf Kunden zugeschnitten werden. Das Konzept der „Economies of Scale“ wird ersetzt durch die „Economies of Access“. Ökosysteme bündeln Angebote für ein bestimmtes Bedürfnis (zum Beispiel Mobilität oder Gesundheit), sodass der Konsument ein ganzes Spektrum an Produkten und Dienstleistungen aus einer Hand erhält.

Die technischen Voraussetzungen für derlei komplexe Angebote sind 2040 gegeben: Ein flächendeckendes Breitbandnetz sowie der Einsatz von künstlicher Intelligenz und Quanten-Computing sind Standard. Smart Devices ermöglichen es Maschinen, miteinander zu kommunizieren und Informationen auszutauschen. Im Alltag haben Geräte, die über Stimme, Gesten, Augenbewegungen oder gar per Gedanken gesteuert werden, das Smartphone abgelöst. Diese Technologien ermöglichen es sogar, virtuelle Treffen abzuhalten – was das Verkehrsvolumen drastisch verringert hat.

Klassische Produktionsunternehmen müssen in diesem Umfeld eine neue Rolle finden und versuchen, selbst ­Ökosysteme zu entwickeln oder in diesen Systemen die Schaltstelle zu besetzen. Der Einsatz neuer digitaler Technologien ist dabei zwingend nötig – nicht zuletzt, um den gestiegenen Kundenerwartungen (individualisierte Angebote, schnelle Lieferung) gerecht zu werden. Selbst kleine Unternehmen können auf digitale Hightech-Lösungen einfach und kostengünstig zugreifen, da die digitalen Champions Quanten-­Computing sowie Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen als Service anbieten. Die zunehmende Automatisierung geht möglicherweise mit einer geringeren Beschäftigung von Arbeitnehmern in klassischen Produk­tionsbereichen einher, während Digitalspezialisten stark gefragt sind.

Illustrationen: Dave Hänggi (6), KNSKB+
Fotos: Evonik Industries, Arnd Drifte, Z_punkt GmbH

ERSCHEINUNGSTERMIN

27. Juni 2019

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Dossier

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Plastikmüll als nachhaltige Ressource

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