DIE GRÜNE REVOLUTION

Lesezeit 10 Minuten

Die Biotechnologie ist eine der Schlüsselwissenschaften des 21. Jahrhunderts. Sie ermöglicht Innovationen in unzähligen Gebieten, eine effizientere Produktion und einen schonenden Umgang mit Ressourcen. Und sie eröffnet enorme wirtschaftliche Chancen.

Erscheinungstermin14. JANUAR 2022

TextDENIS DILBA

Denis Dilba ist Diplom-Ingenieur und Journalist. Vor allem schreibt er über Wissenschaft und Technik – je komplexer das Thema, desto lieber.

Der Schweizer Physiologe Friedrich Miescher wählte 1869 eine ziemlich unappetitliche ­Methode, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Im Tübin­ger Krankenhaus sammelte er benutzte Wundverbände und wusch aus dem Eiter die darin enthaltenen weißen Blutzellen heraus. Er vermutete, dass die in den Zellkernen enthaltene Substanz eine wichtige Rolle in der Biologie spielt. Dass es sich bei seiner neuen, von ihm „Nuklein“ genannten Entdeckung um die Erbsubstanz selbst handeln sollte, konnte er sich allerdings nicht vorstellen.

Was Fortschritt ermöglichen kann, wurde in der Biotechnologie immer wieder unterschätzt. Nachdem James Watson und Francis Crick 84 Jahre später die Doppelhelix-Struktur der DNA entdeckt hatten, galt es bis in die 1980er-Jahre als unmöglich, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln. Und als dem Humangenomprojekt 2003 ebenjene Mammut­auf­gabe doch gelungen war, schlossen die meisten Forscher aus, dass man die DNA jemals gezielt werde verändern können. Wieder falsch: 2012 präsentierten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die sogenannte Genschere Crispr/Cas9, mit der präzise Eingriffe in das Genom möglich sind.

„Jedes Mal, wenn in der Geschichte der Biotechnologie eine Hürde genommen wurde, hat man die nächste für unerreichbar gehalten – und es dann wenig später doch geschafft“, sagt Professor Stefan Buchholz, Forschungsleiter der Division Nutrition & Care von Evonik. Er geht davon aus, dass mit den Überraschungen noch lange nicht Schluss ist: „Mit neuen Hochdurchsatzverfahren zur Genomsequenzierung konnten im vergangenen Jahrzehnt dramatische Kosten- und Leistungsverbesserungen bei der DNA-­Analyse erzielt werden.“

Das Entwicklungstempo übertrifft sogar das „Mooresche Gesetz“, nach dem sich die Anzahl der Transistoren auf einem Computerchip etwa alle 18 bis 24 Monate verdoppelt, wodurch sich die Kosten für Rechenleistung halbieren. Hat es um die Jahrtausendwende noch einige Hundert Millionen $ gekostet, das menschliche Genom zu sequenzieren, kratzt man heute an der 100-$-Marke. „Die enorme Dynamik in der Genforschung im Zusammenspiel mit Fortschritten in der Automatisierung, der hochauflösenden Bildgebung, der künstlichen Intelligenz und Big Data führt immer schneller zu immer mehr Innovationen. Damit rückt die Biotechnologie in den Fokus der Wirtschaft“, sagt Buchholz.

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EINE NEUE INDUSTRIELLE REVOLUTION

Für Matthias Evers, Biotech-Experte und Seniorpartner bei McKinsey, kann die Bedeutung der Biotechnologie kaum überschätzt werden: „Sie ist eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts und könnte – ähnlich wie die Digitalisierung – zu einer neuen industriellen Revolution führen.“ In ihrem 2020 veröffentlichten Report „The Bio Revolution“, von Evers mitverfasst, prognostiziert die Unternehmensberatung, dass biologische Technologien bis 2040 weltweit unmittelbare wirtschaft­liche Effekte von jährlich bis zu 4.000 Mil­liar­den US-$ zur Folge haben. Diese enorme Wertschöpfung beschränkt sich nicht auf die direkte Nutzung moderner gen­basierter Techniken, sondern verteilt sich auf eine Vielzahl von Verfahren, Produkten und Methoden, die derzeit noch in der Entwicklung stecken.

Eine Ahnung der wissenschaftlichen und wirtschaft­lichen Möglichkeiten lieferte zuletzt die erfolgreiche Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19. Ebenso konnten bereits seit Jahrzehnten in Waschmitteln etablierte Tenside dank biotechnologischer Innovationen in der jüngeren Vergangenheit einen wesentlichen Qualitätssprung machen – sie bringen heute die gleiche Waschleistung bei erheblich reduziertem Energieeinsatz: Anstatt des Kochwaschgangs reicht eine 30-Grad-Wäsche aus. Hinzu kommen weitere richtungsweisende Innovationen im Bereich der Ernährung, des Klima- und Umweltschutzes und der Herstellung nachhaltiger Materialien: Biotechnologie ermöglicht nicht nur die effiziente Produktion von Inhaltsstoffen für Nahrungs- und Futtermittel, hautverträgliche Kosmetik, umweltschonende Waschmittel und Biokunststoff. Sie schafft auch die Voraussetzungen, um In-vitro-Fleisch herzustellen, Bakterien im Bergbau einzusetzen und Bio­etha­nol aus zuckerhaltigen Pflanzen zu gewinnen.

Zur Unterscheidung der verschiedenen Anwendungsgebiete hat sich eine Farbenlehre etabliert. Sie differenziert zwischen „roter“, „grüner“ und „weißer“ Biotechnologie. Der rote Biotechnologie-Zweig befasst sich mit der Medizin, der grüne mit Pflanzen und der weiße mit ressourcenschonenden und umweltfreund­lichen industriellen Produktionsverfahren.

In die weiße Biotechnologie ist Evonik bereits 1983 eingestiegen. Damals begannen die Experten mit der biotechnologischen Herstellung der Aminosäure Lysin. Sie kommt hauptsächlich in Tierfutter zum Einsatz. Das Produktionsverfahren basiert auf einem mikrobiologisch optimierten Bakterienstamm, der die für Tiere biologisch verwertbare Form der Aminosäure gezielt produziert, wenn er mit Zucker gefüttert wird. Solche Prozesse, bei denen Mikro­organismen große Mengen eines gewünschten funk­tionellen Moleküls herstellen, heißen Fermentation.

Der ökologische Vorteil solcher Prozesse besteht darin, dass nachwachsende Rohstoffe zum Einsatz kommen und die Produkte in der Regel biologisch abbaubar sind. So wird der als Energiequelle benötigte Kohlenstoff im Kreis geführt, und kein fossiler Kohlenstoff gelangt in die Atmosphäre. Die Biotechnologie ist damit auch eine Schlüsseltechnologie für die Kreislaufwirtschaft.

BIOLOGIE BESSER VERSTEHEN

Heute nutzt Evonik die Biotechnologie in Form fermentativer oder biokatalytischer Produktionsprozesse, um essenzielle Aminosäuren, Probiotika, Nahrungsergänzungsstoffe und pharmazeutische Inhaltsstoffe herzustellen. „Im Mittelpunkt unseres Handelns steht das menschliche Leben“, sagt Johann-Caspar Gammelin, Leiter der Division Nutrition & Care. „Die Biotechnologie ist prädestiniert, komplexe Moleküle herzustellen, die am Menschen, im Menschen oder für den Menschen eingesetzt werden können.“

Darüber hinaus entwickeln die Experten auf dieser Technologieplattform auch nachhaltige Systemlösungen für Kosmetik, Reinigung, Gesundheit und Tier­ernährung. Gerade an den Schnittstellen zwischen Biologie, Medizin, Chemie und Ingenieurwissenschaften entsteht Innovation. Rund 20 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftet die Division Nutrition & Care inzwischen mit Produkten und Dienstleistungen, die auf Biotechnologie basieren. Und dieser Anteil wird weiter steigen.

»Die Biotechnologie rückt in den Fokus der Wirtschaft.«

STEFAN BUCHHOLZ, FORSCHUNGSLEITER DER DIVISION NUTRITION & CARE

Aus dem vertieften biotechnologischen Verständnis ergeben sich immer weitere Anwendungen. Eine von Evonik-Forschern entwickelte epigenetische Analysemethode für Hühner etwa verrät den Gesundheitszustand der Tiere. Sie lässt sich potenziell auf andere Nutztiere übertragen, könnte für eine bessere Datenlage in Zuchtbetrieben sorgen und damit eine nachhaltigere Fleischproduktion fördern. Vielversprechend ist auch der Bereich der neuen „gelben“ Biotechnologie, die sich mit Insekten beschäftigt.

„Wir sehen großes Potenzial für insektenbasiertes Tierfutter“, sagt Buchholz. Im Rahmen des Forschungsprojekts „InFeed“ arbeiten seine Kollegen an der Optimierung der Nährstoffzusammensetzung dieser besonders proteinreichen Kost. Die Aussichten auf ein lukratives neues Geschäftsfeld sind sehr gut: Der Weltmarkt für Insektenprotein wird im kommenden Jahrzehnt Prognosen zufolge dramatisch wachsen.

DIENSTLEISTER DER BIOTECH-BRANCHE

Kräftiges Wachstum verspricht auch der jüngste Durchbruch der mRNA-Technologie in der Medizin. Schließlich benötigen die Hersteller der Wirkstoffe spezielle Technologien, um ihr Präparat unbeschadet an die richtige Stelle im menschlichen Körper zu transportieren. Für Wirkstoffe auf mRNA-Basis, bei denen eine Ribonukleinsäure die genetische Information für den Aufbau eines bestimmten Proteins in einer Zelle überträgt, braucht es für den sicheren Transport in die Zelle sogenannte Lipidnanopartikel (LNP), die aus verschiedenen Lipiden zusammengesetzt werden. Evonik zählt weltweit zu den führenden Herstellern dieser Lipide und arbeitet bereits gemeinsam mit Wissenschaftlern der Stanford University in Kalifornien an neuen Verfahren, mit denen die mRNA künftig noch zielgenauer in Zellen transportiert werden soll.

ENTLASTUNG DER UMWELT

Die Option, per Fermentation oder Biokatalyse Ressourcen zu schonen und CO2-Emissionen zu vermeiden, ist vielversprechend. Am Markt durchsetzen werden sich diese Technologien aber nur dann, wenn sie auch wirtschaftlich attraktiv sind. Ein Beleg dafür, dass sich Nachhaltigkeit und Profitabilität nicht ausschließen, liefert das Algenöl von Veramaris, einem von Evonik und dem niederländischen Unternehmen DSM gegründeten Joint Venture. Es enthält hohe Konzentrationen der Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA und kann in der Lachszucht als Futterzusatz das bislang eingesetzte Fisch­öl ersetzen. Das Algenöl aus dem Fermenter hilft, die Versorgung mit gesundem tierischen Protein zu sichern. Zugleich entlastet es die stark überfischten Weltmeere.

Einen positiven Umweltbeitrag leisten auch Bio­tenside, die auf sogenannten Rhamnolipiden basieren. Sie kommen in Kosmetikprodukten, Waschmitteln und Spülmitteln zum Einsatz. In kurzer Zeit bauen sie sich vollständig biologisch ab, entfernen Schmutz genauso zuverlässig wie sehr gute synthetische Tenside und sind besonders hautfreundlich. Den Forschern ist dabei das Kunststück gelungen, den in einem für Menschen toxischen Bakterium entdeckten Mechanismus der Rhamnolipidproduktion zu entschlüsseln und auf einen ungefährlichen Bakterienstamm zu übertragen. In großen Fermentern setzt der Stamm jetzt Trauben­zucker bei Zimmertemperatur zu den gefragten Lipiden um. Bei der Produktentwicklung und dem Upscaling des Herstellungsverfahrens ko­operiert Evonik mit dem britischen Konsumgüterkonzern ­Unilever.

Für Doug Cameron sind die Rhamnolipide ein mustergültiges Beispiel für die Umsetzung biotechnologischer Forschung in die Praxis: „Hier sieht man die Stärke größerer Unternehmen, die zum einen über ein tiefes Verständnis im Bereich der Biotechnologie verfügen, zum anderen aber auch Erfahrung im Aufbau und Betrieb chemischer Großanlagen haben: Sie können die Prozesse kommerzialisieren“, sagt der Biotechnologie­pionier. Cameron war früher Chefwissenschaftler des US-Agrarkonzerns Cargill und ist heute Co-Präsident der Investmentfirma First Green Partners. „Start-ups entwickeln im Labor zwar schnell aufregende Dinge, unterschätzen aber oft, wie viel Ingenieursexpertise, Zeit und nicht zuletzt Kapital nötig ist, um einen Produktionsprozess zur industriellen Reife zu bringen.“

Nicht nur deshalb sieht Cameron gerade die innovativen Chemieunternehmen in einer guten Ausgangs­position. „Einige der aufregendsten und nachhaltigsten Prozesse in der Zukunft werden solche sein, die Biotechnologie und Chemie auf intelligente Weise miteinander verknüpfen.“ Matthias Evers von McKinsey glaubt, dass das branchenübergreifende Potenzial der Biotechnologie unterschätzt wird: „Unsere Analyse zeigt etwa, dass Roh- und Ausgangsstoffe künftig bis zu 60 Prozent biologisch erzeugt werden könnten.“

Um das Potenzial vollständig zu heben, müsste aber zunächst die europäische Gentechnik-Gesetzgebung modernisiert werden. Kommen Techniken wie die Genschere Crispr zum Einsatz, sind die regulatorischen Hürden besonders hoch – unabhängig davon, welche Eigenschaften der modifizierte Organismus aufweist oder welche Gefahren tatsächlich von ihm ausgehen könnten. „Diese Fragen sollten im Vordergrund stehen“, fordert Evers, „und nicht die Frage, mit welcher Technik er erzeugt wurde.“

Evonik-Forscher Buchholz sieht das ähnlich: „Eine modernisierte Regelung würde das Forschungstempo erhöhen, die Entwicklung von Innovationen fördern und zugleich eine hohe Sicherheit gewährleisten: eine klassische Win-win-Situation“.

Illustrationen: Dave Hänggi mit Fotos von iStockphoto, Oriana Fenwick / Kombinatrotweiss mit Fotovorlage von Fail Better Media / Helen Fischer

Infografik: Maximilian Nertinger

Foto: Bastian Werner / Upfront

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