Dr. Henrik Hahn ist Chief Digital Officer von Evonik.

Dr. Henrik Hahn ist Chief Digital Officer von Evonik.

»WIR SIND GANZ NAH AM KERNGESCHÄFT«

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Dr. Henrik Hahn ist Chief Digital Officer von Evonik, führt gemeinsam mit Dr. Catharina Müller-Buschbaum die Geschäfte der Evonik Digital GmbH und ist Vorsitzender des VCI-Arbeitskreises Digitalisierung. Er erläutert im Interview, welche Rolle Digitalisierung für die Chemie spielt.

INTERVIEWKARIN ASSMANN

FOTOGRAFIEHENNING ROSS

Herr Hahn, die Chemiebranche gilt beim Thema Digitalisierung nicht unbedingt als Vorreiter. Sehen Sie das auch so?

Nein und ja. Beim Betrieb von Produktionsanlagen sehe ich uns durchaus als Vorreiter in der verarbeitenden Industrie. Die Chemie nutzt hier schon sehr lange Prozessleitsysteme – eine umfassende digitale Paketlösung zur intelligenten Regelung und Visualisierung von Anlagen. Hinzu kommt die Prozesssimulation, die die Entwicklung und Optimierung von technischen Prozessen schneller und einfacher macht. Aber wenn es darum geht, Kunden und Lieferanten durchgängig mit uns zu vernetzen oder stimmige digitale Kundenerlebnisse zu ermöglichen und etablierte digitale Marketingwerkzeuge zu verwenden – da sind andere Branchen weiter.

Hat die Chemie diesen Trend verschlafen?

Verschlafen würde ich nicht sagen. Digitalisierung ist ja keine Revolution, die auf einen Schlag kommt, sondern ein evolutionärer Prozess. Und die Chemie ist in einer komfortablen Situation – unsere Kunden schätzen uns für den Wertbeitrag, den wir verlässlich leisten. Aber wird das so bleiben? Ich denke, nein. Wir sind Teil eines Industrienetzwerks aus Kunden, Lieferanten und Wettbewerbern, und Digitalisierung verändert das Zusammenspiel in diesem Netzwerk. Der Austausch von Informationen wird einfacher, schneller, direkter. Es wird zukünftig nicht mehr allein darauf ankommen, was wir herstellen, sondern auch darauf, wie wir mit unseren Kunden interagieren. Das wird unsere Prozesse beeinflussen.

Wo zum Beispiel?

Ein praktisches Beispiel sind Logistikdienstleistungen. Immer mehr Anbieter vernetzen sich mit ihren Kunden und haben eine direkte Anbindung an deren Geschäftssoftware. Über digitale Kanäle und Plattformen wickeln sie die Aufträge ab und können so die Auslastung ihrer Verkehrsträger viel besser planen. Wer als Kunde da nicht mitmacht und lieber Fax, Telefon und E-Mail nutzt, bremst sich selbst aus. Er kann mit vielen Logistikdienstleistern dann nicht mehr effizient zusammenarbeiten.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Wir müssen sehen, dass wir unsere eigenen Prozesse entsprechend anpassen. Und damit meine ich nicht nur die Produktion, sondern auch alle Geschäftsprozesse von HR über Forschung und Anwendungstechnik bis zu Finanzen. Dazu gehört auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz, wobei ich lieber von erweiterter Intelligenz spreche. Gleichzeitig sollten wir unsere eigene digitale Integration in unser Industrienetzwerk vorantreiben und neue digitale Kanäle und Plattformansätze schaffen. Und vor allem müssen wir Begeisterung bei unseren Kunden wecken. Ein Beispiel dafür ist der PLEXIGLAS®-Onlineshop für Geschäftskunden in UK.

Begeisterung wofür?

Schauen Sie sich den Endkunden an: Er kauft ja nicht in einem Onlineshop ein, weil die transaktionalen Prozesse dahinter so wunderbar effizient sind. Er kauft ein, weil es bequem ist und weil es einfach Spaß macht, wenn der Shop gut gemacht ist. Ich glaube, dass unser Kaufverhalten im privaten Bereich auf die Industrie durchschlagen wird – dass Kunden eines Tages sogar erwarten, dass sie unsere Produkte online kaufen können, ohne sich um Geschäftszeiten kümmern zu müssen. Und damit wird dann auch die Erlebniskomponente immer wichtiger.

Was macht Sie da so sicher?

Ein kleines Beispiel: Wir haben Anfang November einen Store auf der B2B-Plattform Alibaba eröffnet und bieten dort unter anderem Silica, Entschäumer und PLEXIGLAS® an. Damit wollen wir vor allem kleine und mittlere Unternehmen in China ansprechen, die wir sonst vielleicht gar nicht erreichen. Noch bevor wir offiziell verkündet hatten, dass wir dort vertreten sind, ging schon die erste Bestellung ein – obwohl eigentlich noch keiner von unserem Angebot wissen konnte. Der Kunde hat uns trotzdem gefunden, weil er auf der Plattform gesurft hat.

Dr. Henrik Hahn ist Chief Digital Officer von Evonik.

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Wie kann man das Onlineshopping von Chemikalien zum Erlebnis machen?

Man muss den gesamten Weg betrachten, den ein Kunde von der reinen Information bis hin zum Kauf eines Produkts einschlägt. Wie macht er das, und was erlebt er dabei? Alle digitalen Tools müssen dafür so gestaltet werden, dass der Kunde sie gerne nutzt. Sie müssen ihm seine virtuelle Reise durchs Unternehmen möglichst einfach machen. Dann wird er gern wiederkommen. Das passt im Übrigen auch gut zum Begriff Spezialchemie.

Was ist wichtiger: die Digitalisierung der internen Prozesse, die Integration in das Industrienetzwerk oder die Erlebniskomponente?

Wir sollten die Prioritätensetzung nicht zur Priorität machen. Digitalisierung ist eine Gestaltungsaufgabe. Es ist naheliegend, dass wir uns mit Effizienz in der Produktion beschäftigen, weil das grundsätzlich leicht messbar sein sollte und in der Regel schnell Rendite bringt. Aber das kann tückisch sein: Man wird dazu verführt, Themen vielleicht gar nicht erst anzugehen oder andere, ebenso wichtige Bereiche zu vernachlässigen. Denn bei internen Geschäftsprozessen, etwa im Personalbereich, ist es schon deutlich schwieriger, den Wert digitaler Tools zu messen.

Und wie sieht es mit neuen Geschäftsmodellen aus?

Es ist auf den ersten Blick verführerisch, sich mit möglichst disruptiven Geschäftsmodellinnovationen zu beschäftigen; es ist eben auch ein schönes Schlagwort. Dafür braucht man aber einen langen Atem. In der chemischen Industrie können wir, anders als zum Beispiel in der Versicherungsbranche, nicht komplett auf ein digitales Geschäftsmodell wechseln. Am Ende sind es die Moleküle, die neue oder leistungsfähigere Produkte bei unseren Kunden ermöglichen.

Das heißt, in der Chemie gibt es Grenzen für das, was digitalisiert werden kann?

Das wollte ich damit nicht sagen. Aber es wird immer jemanden geben müssen, der Chemikalien herstellt. Die Frage ist: Wird man langfristig auf die Rolle des Herstellers reduziert, oder gelingt es, auch die Erlebniskomponente abzudecken? Anders formuliert: Muss man einen Teil der Wertschöpfung an Händler oder Betreiber von Onlineshops abgeben, weil diese die besseren digitalen Tools haben? Und zu guter Letzt geht es auch darum, die Innovationshoheit zu behaupten – wer den Kontakt zu den Kunden hat, weiß, was der Markt braucht, und kann in Forschung und Entwicklung entsprechend reagieren.

Ihre Antwort?

Wir wollen die Wertschöpfung nicht nur im Konzern halten, sondern sie auch steigern. Dazu gehört, dass wir Kooperationen eingehen, um die Digitalisierung voranzutreiben – mit namhaften Technologieunternehmen und Wissenschaftspartnern, aber auch mit noch nicht so bekannten Start-ups und Digitalagenturen. Hier ist es uns gelungen, die Basis für ein digitales Ökosystem für den Konzern zu schaffen.

Sie sind mit Ihrem Team aus der Konzernzentrale ausgezogen. Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie sich zu weit weg vom Konzern bewegen?

Überhaupt nicht. Wir sind eine Konzerneinheit für den Konzern. So haben wir viele Themen aufgegriffen, die in den operativen Einheiten bereits vorgedacht worden waren oder die wir gemeinsam mit ihnen initiiert haben. Wir sind ganz nah am Kerngeschäft unterwegs, erlauben uns aber auch den Blick über den Tellerrand hinaus.

Was, glauben Sie, wird sich in zehn Jahren bei Evonik durch Digitalisierung verändert haben?

E-Commerce wird viel wichtiger sein als heute, und zwar nicht nur wegen der hohen Transaktionseffizienz, sondern weil wir damit neue Kunden gewinnen konnten. Außerdem werden wir eine stärkere Automatisierung durch Assistenzprogramme und Roboter haben. Aber vor allem werden wir sehen, dass der Mensch unverzichtbar ist. Er wird nach wie vor gebraucht werden, denn die Maschinen und Algorithmen müssen ja orchestriert und dirigiert werden. Und das ist nicht nur eine Frage von Technologie und Daten. Bei Evonik steht der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung – das bringen wir auch durch unsere Philosophie #HumanWork zum Ausdruck. In dieser Hinsicht sehe ich uns übrigens ebenfalls als Vorreiter.

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