Prof. Dr. Hartmut Hengel ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Freiburg und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Paul-Ehrlich-Instituts.

Prof. Dr. Hartmut Hengel ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Freiburg und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Paul-Ehrlich-Instituts.

FORTSCHRITT DANK CHEMIE

Lesezeit 4 Minuten

Der Freiburger Virologe Hartmut Hengel über die Aussichten auf eine schnelle Impfung gegen das Coronavirus, die Vorteile der RNA-Technologie und die Rolle der chemischen Industrie bei neuen Impfverfahren

INTERVIEWINGA OLFEN

Professor Hengel, in der Diskussion um einen Corona-Impfstoff melden sich verstärkt Skeptiker zu Wort: Impfungen verursachten Krebs, lösten Krankheiten aus, überlasteten das Immunsystem... Was ist dran an diesen Behauptungen?

Sie lassen sich allesamt wissenschaftlich widerlegen. Grundsätzlich werden an Impfstoffe sogar noch höhere Sicherheitsanforderungen gestellt als an Medikamente, weil sie ja gesunden Menschen verabreicht werden. Die moderne Forschung ist sehr bestrebt, Impfstoffe anzubieten, die ein Minimum an Nebenwirkungen mit sich bringen. In der Vergangenheit haben allerdings manche Impfstoffe auch unerwünschte Effekte verursacht. Deshalb ist eine ausführliche Sicherheitsprüfung so wichtig.

Das kostet Zeit, die gerade im Kampf gegen das Coronavirus besonders knapp ist. Welche Abstriche dürfen gemacht werden, um möglichst schnell ein probates Mittel zur Beendigung der Pandemie einsetzen zu können?

Wie man damit ethisch und politisch umgeht, muss jede Gesellschaft für sich beantworten. Meiner Meinung nach muss man vorsichtig vorgehen und sorgfältig prüfen. Einen nicht gut geprüften Impfstoff in die breite Bevölkerung zu bringen halte ich nicht nur für gewagt, sondern für unethisch. Man muss zunächst die Dauer des Schutzes und die Sicherheits-aspekte über die Zeit studieren. Gerade wenn Nebenwirkungen nur sehr selten auftreten, sieht man diese unter Umständen erst Jahre später.

Viele Ängste beziehen sich auf genbasierte Impfstoffe, die momentan mehrere Zulassungsverfahren durchlaufen. Es gibt Befürchtungen, dass sie das Erbgut des Geimpften verändern könnten. Stimmt das?

Bei den derzeit im Zusammenhang mit Covid-19 diskutierten Vakzinen handelt es sich vor allem um Impfstoffe, deren Wirkmechanismus auf Ribonukleinsäure, also RNA, beruht. Die RNA setzt genetische Informationen in Proteine um und wird – nach allem, was man weiß – nicht in das Erbgut des Menschen eingebaut. Da habe ich keine Befürchtungen.

RNA-Impfungen scheinen unter anderem deshalb so attraktiv zu sein, weil sie in sehr kurzer Zeit in großen Mengen hergestellt werden können. Wie schnell wird ein Impfstoff zur Verfügung stehen?

Bei ein paar Impfstoffkandidaten hoffen wir, dass der ein oder andere davon vielleicht noch 2020 zugelassen werden kann. Zu einer umfassenden Sicherheitsbewertung können wir allerdings erst im Laufe der Anwendung eines Impfstoffs kommen.

Bei anderen Viruserkrankungen wie etwa Masern weiß man, dass 95 Prozent der Bevölkerung immun sein müssen, damit auch ungeimpfte Personen geschützt sind. Wie verhält es sich bei Covid-19?

Das wissen wir nicht. Anders als beim Masernvirus gab es zum Beispiel Corona-Infizierte, die keine Antikörper gebildet haben. Es könnte sogar sein, dass sich eine sogenannte Herdenimmunität bei SARS-CoV-2 gar nicht einstellt, weil Coronaviren auf Reinfektionen programmiert sind. Wenn es uns gelänge, Impfstoffe zu entwickeln, die die für die „Immunevasion“ verantwortlichen Funktionen des Virus nicht enthalten, könnte eine Impfung sogar besser schützen als eine abgelaufene Infektion.

Welche Rolle spielt die Chemie bei der Entwicklung potenter Impfstoffe?

Eine sehr wichtige Rolle. Nehmen Sie die Lipidnanopartikel bei der mRNA-Impfung. Solche Transfektionsreagenzien entscheiden ganz wesentlich über die Effektivität der Impfstoffe, da sie für die Übermittlung der mRNA in die Zellen sorgen. Sie bestimmen, in welche Zellen der Impfstoff mit welcher Effektivität gelangt und wie stabil er ist. Wenn diese Methode beim SARS-Coronavirus erfolgreich sein wird, wäre das ein Einstieg in eine neue Impfstoffklasse, vielleicht sogar in ganz neue Impfprinzipien.

Die Technologie könnte also Probleme lösen, für die es bislang keine Lösungen gibt?

Auf jeden Fall! Ich kann mir sogar vorstellen, dass man damit künftig Cocktails aus Messenger-RNAs herstellt und somit viele Impfungen kombiniert. So könnte man mit viel weniger Einzelimpfungen viel mehr Immunität erzeugen. Das wäre ein großer Fortschritt.

Wird es irgendwann Impfungen gegen alle Krankheiten geben – von Krebs über Parkinson bis Diabetes?

Es wäre naiv zu glauben, dass man alle Krankheiten durch Impfungen eliminieren kann. Aber ich erwarte, dass künftig mehr Infektionskrankheiten durch Impfungen verhindert werden können. Man braucht allerdings Geduld. Deshalb bin ich auch gar nicht glücklich darüber, dass derzeit von einem „Wettrennen“ um einen Corona-Impfstoff die Rede ist. Der Sieger ist nicht unbedingt der, der am schnellsten losläuft. Dies ist ein Marathon und kein Sprint.

Foto: Jürgen Brandel

ERSCHEINUNGSTERMIN

30. Oktober 2020

Impfung

Sicherer Transport

Lipidnanopartikel umhüllen mRNA-Impfstoffe und ermöglichen die Passage durch die Zellmembran.

Medizingeschichte

200 Jahre Impfschutz

Ein Blick zurück auf über 200 Jahre erfolgreichen Kampfes gegen Viren, Bakterien und tödliche Krankheiten.

Gut geschützt

Pharmapolymere

So gelangt Medizin sicher ans Ziel

Liposomen spielen als Wirkstofftransporter eine Schlüsselrolle in der Krebstherapie.

Bioprinting

Lebensqualität von Patienten verbessern

3D-Druck-Forscherin Wai Yee Yeong über das Potenzial von Bioprinting.

ELEMENTS-Newsletter
Erhalten Sie spannende Einblicke in die Forschung von Evonik und deren gesellschaftliche Relevanz - ganz bequem per E-Mail.