Christian Kullmann ist Vorsitzender des Vorstandes von Evonik.

Christian Kullmann ist Vorsitzender des Vorstandes von Evonik.

Corona-Krise als Chance nutzen

Lesezeit 3 Minuten

Die Folgen der Corona­pandemie erfordern eine Neujustierung der europäischen Wirtschafts­politik. Um die Krise zu bewältigen, benötigen wir keinen Green Deal, sondern einen umfassenden Sustainable Future Deal.

vonChristian Kullmann

Selbstverständlichkeiten sind plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Was gerade noch alltäglich war, ist auf einmal verboten. Die Leichtigkeit des Seins weicht der Verunsicherung, der Angst vor Infektion, der Angst vor Arbeitslosigkeit, Abstieg und Insolvenz. Unsere Gesundheit und unser Wohlstand werden bedroht von einem neuartigen ­Virus, das weltweit binnen weniger Wochen bereits mehrere Hunderttausend Todes­opfer gefordert hat. Und das noch lange nicht überwunden ist.

Der Corona-Frühling 2020 hat uns die Augen geöffnet, in vielerlei Hinsicht. Er zeigt, zu welchen Leistungen Menschen und Unternehmen imstande sind, wenn sie in der Not über sich hinauswachsen, um anderen zu helfen. Er offenbart, wie schnell Regierungen entscheiden und handeln können, wenn es gilt, das Schlimmste abzuwenden. Und er legt schonungslos offen, wie robust unsere Unternehmen und Volkswirtschaften wirklich sind – oder wie fragil.

Ob in Asien, in Europa oder in Amerika: Die Wirtschaft stürzt in die Rezession, unzählige Unternehmen werden pleitegehen, viele Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren. Die Probleme sind global, den Kampf dagegen aber führt jedes Land zunächst einmal für sich allein: national.

Internationale Institutionen, die uns in guten Zeiten so wichtig erschienen, werden jetzt bloßgestellt in ihrer aktuellen Machtlosigkeit. Zum Teil ist ihre Lage strukturellen Defiziten geschuldet, zum Teil werden die Institutionen von zentralen Akteuren weiter gezielt geschwächt. Das Ergebnis bleibt das gleiche: Weder dürfte die Weltgesundheits­organisation WHO künftig in der Lage sein, weltweit eine faire Verteilung eines Covid-­19-Impfstoffs zu gewährleisten. Noch ist die Welthandelsorganisation WTO befähigt, ihre Funktion als Schiedsrichter in internationalen Handelskonflikten auszufüllen. Die eingeübten Mechanismen globaler kooperativer Konfliktbewältigung sind leider oft nur noch Muster ohne Wert.

Der internationale Wettbewerb wird sich also nach Corona nicht entspannen, im Gegenteil: Er wird an Härte zunehmen. Jedes Industrieland, jeder große Wirtschaftsraum wird nun mit allen Mitteln versuchen, die eigene Wirtschaft zu stützen. Das könnte in den USA zu noch mehr Protektionismus führen. Asiatische Länder werden in einem gnadenlosen Wettbewerb mit Europa und Amerika versuchen, sich Zukunftsinvestitionen zu sichern und strategisch wichtige Märkte und Wertschöpfungsketten zu dominieren.

Die Verantwortung zum Handeln liegt jetzt bei den Nationalstaaten – oder starken regionalen Bündnissen. Für die Europäische Union, die schon vor Corona in einer tiefen Krise steckte, geht es jetzt ums Ganze. Das Virus zwingt uns, endlich verbindlich Farbe zu bekennen: Wollen wir eine starke und in schweren Krisen handlungsfähige EU? Oder wollen wir uns im Ernstfall weiter darauf verlassen, dass die deutschen Probleme in Berlin, die italienischen in Rom und die schwedischen in Stockholm gelöst werden?

»Wir brauchen jetzt ein Wachstumsprogramm, in dem neben ökologischen Zielen auch soziale und ökonomische Aspekte berücksichtigt werden.«

Was sich in der akuten Bewältigung der Infektionswelle ausgezahlt hat, trifft für den ökonomischen Neustart umso mehr zu: Nur gemeinsam können wir als Europäer die Kraft aufbringen, diese schwere Krise durchzustehen. Besinnen wir uns auf den europäischen Geist und auf die ursprüng­liche Idee eines geeinten Europas, in dem nie wieder Kriege geführt oder Rohstoffe ein­ander vorenthalten werden – eines Europas, in dem die Menschen in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben.

Was wäre gewonnen, wenn einzelne Länder im Norden ihre relative Stärke ausspielen würden, um ihre Wirtschaft durch die Krise zu bringen, und Staaten im Süden und im Osten nicht wieder auf die Beine kämen? Nichts wäre gewonnen, im Gegenteil: Europa wäre faktisch am Ende. Und das würde kein Land härter treffen als Deutschland.

Nutzen wir diese Krise, um Europas Handlungsfähigkeit zu verbessern! Nutzen wir die Krise, um gemeinsam erfolgreicher zu werden. Der Wiederaufbau bietet dazu Gelegenheiten. Wann immer der Staat riesige Mengen Geld investiert, ergibt sich Gestaltungsmacht. Wie soll unsere Wirtschaft, wie soll unsere Industrie in Zukunft aussehen? Welche Modelle, welche Technologien sollen systematisch gefördert werden?

KEINE WEITEREN BELASTUNGEN!

Ohne Wachstum ist alles nichts. Natürlich bleibt der Klimaschutz ein Leitmotiv des ­gezielten Aufbaus. Hier setzt der Green Deal der Europäischen Kommission den Trend. Er springt allerdings, nach allem, was bisher bekannt ist, viel zu kurz. Das gilt gerade im Hinblick auf die Coronapandemie: Wir brauchen jetzt ein echtes, nachhaltiges Wachstumsprogramm, in dem neben den be­rechtigten ökologischen Zielen auch sozia­le und ökonomische Aspekte gleichrangig berücksichtigt werden. Ein Programm, das Wachstum möglich macht und das zusätz­liche Belastungen für Unternehmen in dieser Zeit konsequent unterbindet.

Europa braucht jetzt Unternehmertum, Wachstumsimpulse, nicht Dirigismus, Verbote und zusätzliche Regulierung. Ent­wickeln wir den Green Deal weiter: zu einem Sustain­able Future Deal. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Energie. Die Dekarbonisierung der Stromproduktion ist der Schlüssel zum Klima­schutz. Zugleich benötigen Industrie­unternehmen enorme Mengen Energie, und das bleibt auch so, trotz aller Effizienzsteigerungen. Dieser Industriestrom muss in Europa verfügbar und bezahlbar bleiben. Sonst können die für die wirtschaftliche Erholung wichtigen Schlüsselbranchen nicht überleben.

Um ökologischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen gerecht zu werden, brauchen wir Anreize und Zielvorgaben im europäischen Maßstab. Die Förderung klimafreundlicher Erzeugungsarten muss hierzu verbunden werden mit Zielpreisen, die den Unternehmen Investitionssicherheit bieten. Bei Themenfeldern, die im grenz­überschreitenden Verbund viel leichter zu lösen sind, etwa dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft, muss die Infrastruktur gleich im europäischen Maßstab geplant werden. Das senkt Anlaufkosten und erhöht die Durchschlagskraft.

Entscheidende Beiträge zur Dekarbonisierung unserer Energieversorgung leistet die Chemieindustrie schon heute: Kein Windrad dreht sich ohne Leichtbau-Rotoren, keine Solaranlage kommt ohne Chemieprodukte aus. Zugleich leisten der Maschinen- und Anlagenbau wertvolle Beiträge. Wenn wir diese Kompetenzen und diese Expertise bündeln und der Kreativität unserer Ingenieure freien Lauf lassen, werden wir zu Lösungen kommen, die voll auf unsere Nachhaltigkeitsziele einzahlen: im ökologischen Sinne ebenso wie im ökonomischen und im sozialen.

Zu einem solchen Umbau der europäischen Wirtschaft gehören klare Zeitpläne. Den Rahmen geben aus ökologischer Per­spektive die Maßstäbe des Pariser Klimaschutzabkommens vor. Dazu bekennen wir uns bei Evonik ausdrücklich. Wir werden unsere absoluten CO2-Emissionen von 2008 bis 2025 halbieren. Die chemische und die pharmazeutische Industrie haben gerade in den vergangenen Monaten ihre Fähigkeit, kurzfristig auf neue Herausforderungen zu reagieren, unter Beweis gestellt: als Produzent und Lieferant von Desinfektionsmitteln, als Hersteller von Schnelltests und pharmazeutischen Wirkstoffen und nicht zuletzt als Entwickler eines hoffentlich zeitnah vorliegenden Impfstoffs. Gemeinsam werden wir Covid-19 besiegen. Chemie hilft.

KLIMASCHUTZ IST PROFITABEL

Eine wirklich nachhaltige Neuausrichtung wird aber nur gelingen, wenn die Unternehmen nicht überstrapaziert werden. Der aktuelle Einschnitt durch Corona ist beispiellos. Das volle Ausmaß der Krise wird uns erst in den kommenden Monaten und Jahren vor Augen geführt werden. Ein wirklich nachhaltiger Neustart kann daher nur gelingen, wenn weder Bürger noch Unternehmen mit dem Tempo oder mit neuen Belastungen überfordert werden.

Eins ist klar: Nachhaltigkeit ist für die chemische Industrie nicht erst seit gestern ein wichtiges Prinzip der Unternehmenssteuerung. Im Sinn eines Dreiklangs zielen wir darauf, gesellschaftlichen Wohlstand mit wirtschaftlichem Wachstum zu ermöglichen, für sozialen Ausgleich zu sorgen und die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu erhalten. Wir tun dies aus der Überzeugung, dass sich im Sinn eines volkswirtschaftlichen Nutzens Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Wachstum und Profitabilität wechselseitig bedingen. Ökologie und Ökonomie sind eben kein Widerspruch! Klimaschutz kann hochprofitabel sein, und zwar in jeder Hinsicht. Das wissen wir.

Wenn dieses Verständnis auch den Geist des europäischen Neustarts bildet, mit dem wir die Zeit der Verunsicherung hinter uns lassen wollen, werden wir die Krise nicht nur meistern, sondern als Union gestärkt aus ihr hervorgehen.

Foto: Bernd Brundert

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