Volle Wirkung

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Therapeutische Proteine gewinnen weltweit an Bedeutung. Die Wirkstoffe versprechen großen medizinischen Fortschritt, manche tragen jedoch ein Problem in sich: Der Körper baut sie zu schnell ab. Abhilfe versprechen Ketten aus Polyethylenglykol, die Evonik in Pharmaqualität herstellt.

TEXTANNETTE LOCHER

Marius Mewald liebt knifflige Aufgaben. Sein Job als promovierter Chemiker in einer Forschungsabteilung bei Evonik ist es, Kundenwünsche zu erfüllen. Der Bereich, für den Mewald seit 2015 arbeitet, nennt sich Exklusivsynthese. Die Kunden – Pharmaunternehmen vom Start-up bis zum Branchenriesen – haben höchst individuelle Anliegen. Meist wollen sie ein neues Arzneimittel auf den Markt bringen und suchen einen Partner, der den Wirkstoff oder eine Vorstufe davon zuverlässig in höchster Qualität herstellen kann.

Dieser Wunsch führt oftmals zu einem Forschungsauftrag für Projektmanager wie Mewald. „Wir besitzen das Know-how für spezielle Technologien, die zu bestimmten Molekülklassen führen“, sagt der 36-Jährige. „Aber jedes Molekül braucht seinen eigenen Prozess.“ Diesen Prozess auszutüfteln und später an die Kollegen der Produktion zu übergeben ist Mewalds Aufgabe – und seine Leidenschaft.

Seit einer Weile sieht der Alltag des Forschers jedoch ganz anders aus: Sein Labor in Hanau ist zum Produktionsbetrieb mutiert. Denn für die neuartige Technologie, die hier erprobt und entwickelt wurde, existiert noch keine Großanlage. „Statt Neues auszuprobieren, müssen wir jeden Tag das Gleiche auf exakt die gleiche Art und Weise tun“, so Mewald. „Über Monate hinweg.“ Man merkt ihm an, dass ihm das eigentlich nicht recht ist. Trotzdem wirkt er zufrieden – und stolz. Immerhin hat es das Team, das er heute leitet, mit diesem Projekt bis ins Finale des Evonik-Innovationspreises 2019 geschafft.

Die besondere Leistung: In wenigen Jahren haben die Experten eine Technologie zur Herstellung von Polyethylenglykol (PEG) für Pharmaanwendungen entwickelt, eine Pilotanlage errichtet und einen ersten großen Kundenauftrag gewonnen. Mit den langkettigen, aus dem Baustein Ethylenoxid gebildeten Molekülen lassen sich empfindliche Arzneiwirkstoffe so modifizieren, dass sie lange genug im Körper bleiben, um ihre Wirkung zu entfalten.

Ganz in Grün: Gasundurchlässige Schutzkleidung ist für Evonik-Chemiker Marius Mewald Pflicht, wenn er mit dem Rohstoff Ethylenoxid arbeitet.

„PEGs herstellen können viele, Pharma-PEGs allerdings nur eine Handvoll Unternehmen auf der Welt“, sagt Mewald. Die Kunst besteht unter anderem darin, Molekülketten zu erzeugen, also Polymere, die nur sehr geringe Unterschiede in der Kettenlänge aufweisen und an ihren zwei Enden immer bestimmte chemische Gruppen tragen. „Jede Abweichung kann die Wirkung eines Arzneimittels beeinträchtigen“, so Mewald. Die Kontinuität im Prozess und damit die immer gleiche Produktqualität sicherzustellen ist derzeit Mewalds wichtigste Aufgabe.

Die Nachfrage der Pharmaindustrie nach PEGs wächst stetig, denn immer mehr Wirkstoffe werden biotechnologisch hergestellt. Therapeutische Proteine wie kleine Peptide, Enzyme und Antikörper fluten seit einigen Jahren die Entwicklungspipelines der forschenden Unternehmen. Sie machen einen großen Teil der sogenannten Biologicals aus. 2001 gehörte jeder fünfte Wirkstoffkandidat zu dieser Gruppe, inzwischen ist es ungefähr jeder dritte.

Der Vorteil dieser Biologicals: Sie wirken meist sehr spezifisch und sind höchst effektiv. In vielen Fällen sind sie zur Therapie schwerer Erkrankungen wie Krebs, Infektionskrankheiten und Autoimmunerkrankungen bestimmt. Aber: Der Körper ist darauf eingestellt, fremde Proteine schnellstmöglich „unschädlich“ zu machen. Es könnte sich ja um ein Gift oder ein schädliches Abbauprodukt handeln. Häufig reagiert also das Immunsystem auf das therapeutische Protein und legt es lahm. Oder Enzyme greifen an und zerlegen das Protein in seine Bestandteile. Kleine Proteine werden darüber hinaus ziemlich schnell über die Niere abgebaut.

Diese Art von modernen Arzneiwirkstoffen braucht also Unterstützung. Eine Möglichkeit, ihre Verweildauer im Körper zu verlängern, ist die sogenannte PEGylierung. Dabei werden dem Wirkstoff lange PEGKetten angehängt. Sie machen das Gesamtmolekül zum einen voluminöser und verhindern damit die Filtration aus dem Blutplasma sowie den nachfolgenden Abbau in der Niere. Zum anderen schirmen sie den Proteinanteil gegenüber Enzymen und dem Immunsystem ab.

Von diesem Effekt profitieren vor allem die Patienten. Noch im Jahr 2000 mussten beispielsweise Interferone, die zur Behandlung der chronischen Hepatitis C eingesetzt werden, täglich gespritzt werden. Innerhalb von rund vier Stunden wurde die Hälfte des verabreichten Interferons über die Niere bereits wieder abgebaut. Nur durch tägliche Gabe ließ sich die gewünschte Wirkung – die Stimulierung des Abwehrsystems gegen das Hepatitisvirus – erreichen. Der tägliche Gang zum Arzt war für die Patienten und das Gesundheitssystem eine große Belastung.

UNENTBEHRLICHE ARZNEIMITTEL

Dann kamen 2000 und 2002 die ersten PEGylierten Interferone auf den Markt: Peginterferon alpha-2b und Peginterferon alpha-2a. Ihr Spiegel im Blut fällt über einen zehnmal so langen Zeitraum ab. Seitdem ist nur noch ein Arztbesuch pro Woche erforderlich. Die Peginterferone setzten sich schnell im Markt durch. Seit 2013 stehen sie sogar auf der „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel“, die die Weltgesundheitsorganisation herausgibt.

Markus Mewald (rechts) und Michael Reuter, Mitarbeiter aus der Wirkstoffproduktion, bestimmen den Wassergehalt der Reaktionslösung.

Pegfilgrastim, ein Mittel gegen das Auftreten lebensgefährlicher Infektionen bei der Chemotherapie, war der erste Blockbuster unter den PEGylierten Arzneimitteln, erzielte also einen Umsatz von mehr als einer Milliarde US-$. 2019 waren es bereits über drei Milliarden US-$. Auch dieses Therapeutikum existierte zuerst nur in unPEGylierter Form und musste nach jedem Chemotherapie-Zyklus zehn Tage lang täglich verabreicht werden. Dank PEGylierung reicht jetzt eine einzige Spritze am ersten Tag nach der Chemotherapie.

Für Wissenschaftler wie Dr. Bernd Meibohm bedeutet die Modifizierung mit PEGs einen echten Durchbruch für den Wirkstofftransport im Körper: „Das Besondere an der PEGylierung ist, dass sie die physikalischchemischen Eigenschaften therapeutischer Moleküle verändert, ohne deren Wirksamkeit zu beeinträchtigen“, sagt der Professor am College of Pharmacy, The University of Tennessee Health Science Center, der sich auf Pharmakinetik und Pharmakodynamik, also das zeitliche Verhalten von Wirkstoffen im Körper, sowie auf die Entwicklung therapeutischer Proteine spezialisiert hat.

Der aus Deutschland stammende Pharmakologe ist auch mit anderen Methoden vertraut, Wirkstoffe zu modifizieren, etwa der Kopplung mit einem AlbuminEiweiß. Die PEGylierung biete jedoch mehr Möglichkeiten zur Feinabstimmung. „Es gibt für jeden Wirkstoff ein optimales PEG“, so Meibohm. So lassen sich etwa die Kettenlänge oder die Verzweigung des Moleküls modifizieren. „Und es lohnt sich, dieses sorgfältig zu identifizieren.“

Wenn das richtige PEG für den jeweiligen Wirkstoff bestimmt ist, muss ein Produzent gefunden werden. Genauer gesagt: mindestens zwei, möglichst auf unterschiedlichen Erdteilen. „Bei einem lebenswichtigen Medikament wäre die Abhängigkeit von einem einzigen Produktionsstandort viel zu riskant“, erläutert Evonik-Forscher Mewald. Die Coronapandemie hat gezeigt, wie anfällig globale Lieferketten sein können

Evonik begann 2015, sich mit Pharma-PEGs zu beschäftigen. Die PEGylierung von Wirkstoffen zeichnete sich als attraktiver Wachstumsmarkt ab, und alle erforderlichen Kompetenzen fanden sich im Haus, wenn auch in unterschiedlichen Geschäftseinheiten.

Das Spezialchemieunternehmen stellt seit Jahrzehnten PEGs und andere Polyether in industriellem Maßstab für vielfältige Anwendungen her. Sie werden zum Beispiel als Bestandteile von Schaumstabilisatoren oder Emulgatoren eingesetzt. Deshalb kennt sich Evonik mit dem sehr reaktiven, toxischen Ausgangsmaterial aus: Ethylenoxid. „Sind einmal zehn Ethylenoxid-Bausteine als Kette verbunden, ist die Gefährlichkeit weg“, erläutert Mewald. Der Hersteller der PEGs muss jedoch mit dem Einzelmolekül umgehen können – und sicherstellen, dass sich im Endprodukt nicht mehr die geringste Spur von Ethylenoxid befindet.

Der gläserne Ein-Liter-Reaktor im Hanauer Evonik-Labor kommt bei Versuchen zum Einsatz.

KNOW-HOW AUS MEHREREN WELTEN

Darüber hinaus arbeitet der Evonik-Produktbereich Exklusivsynthese schon lange erfolgreich als Lohnhersteller (Contract Manufacturing Organization) für die Pharmaindustrie und gehört weltweit zu den führenden Anbietern (siehe Kurzinterview unten). Dr. Dietmar Reichert, im Geschäftsgebiets Health Care für das technische Marketing der Exklusivsynthese zuständig, begründet das mit zwei Faktoren: „Wir stehen unseren Kunden als strategischer Partner zur Seite, und wir differenzieren uns durch Technologien, die nur wenige Unternehmen weltweit beherrschen.“ Dies erfordere ganz besonderes Know-how und Erfahrung – teilweise aus ganz unterschiedlichen Unternehmensbereichen. „Bei den PEGs geht es darum, die komplette Kette zu beherrschen: den sicheren Umfang mit dem Ethylenoxid, die Entwicklung eines spezifischen PEGs und dessen reproduzierbare Herstellung in Pharmaqualität“, so Reichert.

So willkommen die erste Kundenanfrage war – sie stellte das Forscherteam um Mewald vor eine ziemliche Herausforderung: „Wir wurden direkt in die Champions League katapultiert“, erzählt Mewald. Der Kunde interessierte sich nämlich für ein sehr großes PEG. „Je länger, desto schwieriger“, sagt Mewald. Denn mitzunehmender Länge einer Kette wächst die mögliche Varianz. Und die ist höchst unerwünscht.

»Wir zählen zu den Top drei der Lohnhersteller im Pharmabereich«

Drei Fragen an Dr. Andreas Meudt, Leiter des Produktbereichs Exklusivsynthese bei Evonik

Warum lassen selbst große Pharmafirmen Wirkstoffe von Dritten herstellen?

Bis vor rund zehn Jahren haben vor allem große Pharmaunternehmen ihre Wirkstoffe und Arzneimittel selbst produziert. Inzwischen fokussieren sich viele auf ihre Kernkompetenzen: die Entwicklung neuer Wirkstoffe und das Marketing. Außerdem sind zur Herstellung immer mehr Spezialtechnologien erforderlich, die nicht jedes Unternehmen vorhalten kann.

Wie groß ist der Kreis potenzieller Kunden?

Weltweit arbeiten mehr als 4.000 Unternehmen an der Entwicklung neuer Arzneimittel. Viele davon sind Ausgründungen von Universitäten, die über keine eigenen Produktionskapazitäten verfügen. Fast die Hälfte der Wirkstoffproduktion – in Wert gemessen – erfolgt inzwischen durch Lohnhersteller.

Welche Rolle spielt Evonik in diesem Markt?

Wir sind seit rund 25 Jahren als Lohnhersteller für die Pharmaindustrie tätig und gehören heute zu den Top drei in der Welt. Wir differenzieren uns, weil wir besonders anspruchsvolle Technologien beherrschen. Dazu gehören zum Beispiel Wirkstoffe, bei denen bereits eine geringe Menge enorme Wirkung im Körper hat, sogenannte HPAPIs. Viele Krebsmedikamente fallen in diese Klasse. Der Umgang damit erfordert spezielle Sicherheitsvorkehrungen. Wir sind darauf eingestellt und verfügen über die weltweit größte Herstellkapazität für HPAPIs.

Der Wirkstoff, für den das Evonik-PEG bestimmt ist, soll gegen mehrere bisher nicht behandelbare Erkrankungen zum Einsatz kommen und befindet sich in der klinischen Entwicklung. Etliche Monate brauchte das Team, um das erste akzeptable Muster herzustellen, erinnert sich Mewald. Es war noch nicht der Volltreffer. Aber der Kunde ließ sich auf den gemeinsamen Lernprozess ein. Mehrfach wurde die Anlage umgebaut, bis Prozess und Setup stimmten.

Inzwischen läuft die zweite Produktionsserie – in der Pilotanlage in Mewalds Labor. Der 50-Liter-Reaktor steht in einem Abzug. Alle Zutaten werden über geschlossene Leitungen automatisch dosiert, damit jeder Kontakt mit dem Ethylenoxid ausgeschlossen ist. Zu sehen ist nichts als Edelstahl und zahlreiche Sensoren. „Den Sensoren dürfen Sie nicht einmal mit einem Filzstift zu nahe kommen, sagt Mewald. „Sie würden auf das Lösemittel reagieren.“ Die Prozessentwickler werden inzwischen von Kollegen aus der Wirkstoffproduktion unterstützt. So kann die Produktion im Zweischichtbetrieb an sechs Tagen pro Woche laufen.

Oben: Der 50-Liter-Reaktor wird mit den Startmaterialien befüllt. Unten: Michael Reuter prüft den Inhalt.

In einem Betrieb der Wirkstoffproduktion wird das PEG anschließend unter den von der Pharmaindustrie geforderten Bedingungen der „Good Manufacturing Practice“ weiterverarbeitet. Zuletzt ist noch ein Aktivierungsschritt erforderlich, bevor das Molekül mit dem Arzneiwirkstoff reagieren kann. Es soll dort an eine definierte Stelle binden. Dazu werden die Molekülenden des PEGs modifiziert. „Die Aktivierung kann man sich wie das Anbringen einer Anhängerkupplung an ein Auto vorstellen“, erläutert Mewald. Andere PEGs werden an einem Ende quasi versiegelt und sind nur an einem Ende aktivierbar – sogenannte mPEGs (Methoxypolyethylenglykole).

Den letzten Schritt, die Bindung des PEGs an den Wirkstoff, übernimmt bei diesem Kundenauftrag der Wirkstoffhersteller. Das aktivierte PEG lässt sich in Pulverform leicht verschicken – wenn es sein muss, um die halbe Welt. Künftig könnte Evonik nicht nur PEGs und aktivierte PEGs, sondern auch PEGylierte Wirkstoffe herstellen. „Wir wollen unser Angebot in diese Richtung ausbauen“, sagt Reichert.

Zurzeit läuft die Planung für eine kommerzielle Anlage, um die Kapazität für die PEG-Produktion zu erweitern. Ist das geschafft, werden Reaktor und Labor wieder frei für das, was Marius Mewald liebt und was im Moment nur am Rande möglich ist: Prozesse für andere PEG-Varianten zu entwickeln. Und davon gibt es noch viele.

Annette Locher ist Diplom-Biologin und seit 2012 in der Kommunikation von Evonik tätig. Sie schreibt vor allem über Gesundheit, Ernährung und Nachhaltigkeit.

Fotos: Ollanski, Robert Eikelpoth (5)

Infografik: Maximilian Nertinger

Illustration: Oriana Fenwick / Kombinatrotweiss mit Fotovorlage von Markus Schmidt

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