Durch die gesamte, 120 Quadratmeter große Anlage zieht sich ein Schienensystem zum Transport von Panels und Behältern.

Durch die gesamte, 120 Quadratmeter große Anlage zieht sich ein Schienensystem zum Transport von Panels und Behältern.

TESTSTRECKE FÜR LACKE

Lesezeit 7 Minuten

Mit einer neuen, vollautomatischen Anlage zur Testung von Lackrezepturen kann Evonik die Suche nach der optimalen Formulierung deutlich verkürzen. Das Spezialchemieunternehmen beschleunigt so nicht nur das eigene Innovationstempo, sondern auch das der Kunden.

VONCLAUDIA BRAMLAGE UND ELLEN REUTER

Enthaltene Medien

Jedes Jahr kommen weltweit rund 40 Millionen Tonnen Lacke zum Einsatz: Sie schützen Oberflächen vor Korrosion, verleihen ihnen besondere Merkmale wie elektrische oder thermische Leitfähigkeit und verlängern die Langlebigkeit von Konsumgütern. Dabei steigen die Ansprüche an Beschichtungen ständig, und die Kunden müssen sich angesichts der stetig wachsenden Komplexität und des zunehmenden regulatorischen Drucks immer wieder neuen Anforderungen stellen.

»Unsere Kunden können ihre Lackrezepturen nun deutlich schneller entwickeln und optimieren.«

Ellen Reuter

Die Formulierung eines Lacks bewegt sich irgendwo zwischen Handwerk, Wissenschaft und Kunst. Denn neben der Hauptkomponente Bindemittel enthalten sie organische Lösungsmittel oder Wasser, häufig Pigmente und Füllstoffe, Katalysatoren und Co-Lösungsmittel sowie Additive; zudem stehen für jede Komponente unterschiedliche chemische Vertreter zur Verfügung. Die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Inhaltsstoffe ist deshalb gigantisch: Sollen bei der Entwicklung einer Lackrezeptur nur zehn Härter, zehn Bindemittel, zehn Pigmente und zehn Additive betrachtet werden, ergeben sich bereits 104 oder 10.000 Kombinationen. Variationen der Mengenverhältnisse sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Diesen Raum der Möglichkeiten vollständig abzudecken und alle Kombinationen und Mengenverhältnisse auf ihre Eigenschaften hin zu testen, ist in der Praxis ausgeschlossen. Umgekehrt setzt die systematische Suche nach der optimalen Lackrezeptur aber voraus, genau diesen Raum mit vertretbarem finanziellen und personellen Aufwand zumindest weitgehend zu erkunden – nur so bleibt nichts dem Zufall überlassen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma haben die Lackexperten von Evonik nun mit dem Aufbau einer Hochdurchsatzanlage am Standort Essen gefunden, die exakt auf die Anforderungen bei Entwicklung und Formulierung eines Lacks abgestimmt ist.

Schneller zur perfekten Formulierung

Mit der Anlage hat sich Evonik zusätzliche Freiheitsgrade geschaffen, um treffsicher das Additiv oder Spezialbindemittel zu finden, das perfekt zu den anderen Komponenten und zum Einsatzzweck eines Lacks passt. Keine leichte Aufgabe: Additive zum Beispiel machen nur einen geringen Prozentsatz in der Formulierung aus, beeinflussen aber wesentlich die Eigenschaften eines Lacks. Sie beseitigen Schaum beim Auftragen der Beschichtung, verhindern, dass Farbpigmente verklumpen, und bewirken, dass sich Lacke thixotrop verhalten – dass sie sich gut applizieren lassen, aber beim Trocknen an senkrechten Flächen keine „Nasen“ bilden. Wieder andere erhöhen die Kratzfestigkeit einer Beschichtung. Damit steht eine Vielzahl von Additiven zur Verfügung, um eine Rezeptur zu perfektionieren. Erschwert wird die Suche nach optimalen Additiven auch dadurch, dass sie sich je nach chemischer Zusammensetzung gegenseitig in ihrer Wirkung beeinflussen.

Das erklärt den Wert der neuen Anlage: Sie ermöglicht es, systematisch in der gleichen Zeit viel mehr Formulierungen als bisher zu testen. Für die Kunden heißt das, dass sie Lackrezepturen schneller optimieren und schneller entwickeln können. Damit sparen sie wertvolle Zeit bei der Markteinführung neuer Produkte. Die Anlage ist gut zwei Meter hoch und nimmt eine Fläche von etwa 120 Quadratmetern in einem klimatisierten Raum ein. Sie dosiert Rohstoffe vollautomatisch und formuliert sie im ersten Schritt auf der sogenannten Formulierungsinsel zu Lacken. Im zweiten Teil der Anlage werden die Substrate, auch Panels genannt, mit den zuvor formulierten Lacken beschichtet, getrocknet und dann zur Prüfinsel transportiert. Dort werden die Eigenschaften der Formulierungen charakterisiert, sobald die jeweilige Lackformulierung ausgehärtet ist. Alle Schritte laufen vollautomatisch nach einem exakt definierten, jederzeit reproduzierbaren Programm ab – das ist die Stärke der Anlage.

Komplexe Arbeitsschritte voll automatisiert

Formulieren, beschichten, charakterisieren: Was einfach klingt, verlangt der Maschine eine Vielzahl komplexer Arbeitsschritte ab. Die Anlage besteht aus 52 Elementen, die zu 30 Funktionalitäten zusammengefasst sind. Jede Funktionalität steht dabei für das Lösen einer bestimmten Aufgabe, zum Beispiel eine Lackformulierung auf ein Panel auftragen. Verbunden sind die 52 Elemente über ein Schienensystem, das sich durch alle Anlagenteile zieht und auf dem per Shuttle Behälter und Panels transportiert werden. Hinzu kommen 13 Roboter, die verschiedene Tätigkeiten durchführen, wie Shuttle bestücken oder Panels in den Ofen legen.

Innerhalb von 24 Stunden können durchschnittlich 120 Proben auf der Anlage formuliert werden. Während sie auf ein Panel aufgebracht und charakterisiert werden, können die Experimente für ein neues Projekt gestartet werden. Daher auch die Bezeichnung Hochdurchsatzanlage oder High Throughput Equipment (HTE).

Das Dosieren und das Mischen der Rohstoffe sind besondere Herausforderungen für die Anlage. Ein Beispiel ist die Viskosität der eingesetzten flüssigen Rohstoffe, die stark differieren kann. Die Spanne reicht von extrem dünnflüssig bis zu so z.hflüssig, dass die Stoffe erst erhitzt werden müssen, damit sie sich überhaupt dosieren und einfüllen lassen. Manche Flüssigkeiten können zudem Behälter- und Werkzeugmaterialien angreifen, indem sie sie lösen. Und auch pulverförmige Pigmente und Füllstoffe haben ihre Tücken: Sie unterscheiden sich in Schüttdichte und Rieselfähigkeit, was je nach Pulver korrektes Wiegen und Dosieren erschweren kann.

Während sich ein gut ausgebildeter Techniker schnell auf die jeweiligen Rohstoffe einstellt, ist das für eine vollautomatische Anlage eine schwierige Aufgabe. Die HTE-Anlage meistert sie vor allem dank einer gut durchdachten Software. Damit lassen sich alle notwendigen Parameter für die Dosierung einstellen. Bei Flüssigkeiten sind das unter anderem Druck, Temperatur und die Öffnungszeiten der Ventile, bei Pulvern dagegen die Geschwindigkeit der Dosierschnecke bei der Grobdosierung, der Bereich der Feindosierung und die Feindosierungsamplitude. In der übergeordneten Software RaceLab, die Evonik entwickelt hat, werden alle In- und Outputdaten, die für das Betreiben der Anlage benötigt werden, in einer Datenbank zusammengeführt.

120
Proben pro Tag kann die neue Hochdurchsatzanlage formulieren und testen.

Pluspunkte bei der Reproduzierbarkeit

Dank optimierter Technik dosiert die HTE-Anlage ausgesprochen zuverlässig und jederzeit reproduzierbar. Sie registriert eventuelle Abweichungen vom Sollwert und speichert sie. Damit lässt sich bei auffälligen Ergebnissen leicht nachvollziehen, ob es Unregelmäßigkeiten in den Arbeitsabläufen gab.

Die Stärken der Anlage zeigen sich auch bei Herstellung und Prüfung von Pigmentkonzentraten. Normalerweise müssen die Pigmente zeitaufwendig durch Mahlkörper zerkleinert werden. In der HTE-Anlage ist dafür ein spezieller Mischer im Einsatz, bei dem die doppelte Rotation des Mischbechers für eine deutlich schnellere Zerkleinerung und Dispergierung sorgt. Eine spezielle Luftkühlung verhindert überdies eine zu starke Hitzeentwicklung, die die Lackrohstoffe zerstören könnte. Die anschließende, im Labor bisweilen recht mühsame Abtrennung der Mahlkörper aus den zum Teil sehr viskosen Mischungen übernimmt in der HTE-Anlage eine Zentrifuge. Ein speziell entwickelter Filteradapter lässt das Lackmaterial durch und hält die Mahlkörper zurück; ein Roboter führt die notwendigen Bewegungen aus.

Um anschließend die Lagerstabilität eines Pigmentkonzentrats zu bewerten, verraten im Labor eine optische Kontrolle und der Einsatz eines Spatels, ob sich ein Bodensatz gebildet hat. Entsprechende optische und taktile Fähigkeiten auf eine Maschine zu übertragen erfordert enormen Aufwand. Die Entwickler der HTE-Anlage fanden eine andere Lösung: Ein Messkopf ermittelt, auf welchen mechanischen Widerstand er beim Absenken in die Probe trifft. So ersetzt ein objektiver Parameter die eher subjektive menschliche Beurteilung.

Ein weiterer Arbeitsschritt, der eine vollautomatische Anlage besonders herausfordert, ist das Aufrakeln einer Lackformulierung: Das Panel darf beim Auftragen nicht verrutschen, die Lackmenge muss der gewünschten Schichtdicke entsprechen, und die Umgebung darf nicht verschmutzt werden, um das nächste Panel nicht zu kontaminieren. Diese Aufgaben übernimmt ein eigens dafür konstruierter Roboter. Panel für Panel trägt er die exakt gleiche Lackmenge in der exakt gleichen Schichtdicke auf und reinigt die Rakel in unterschiedlichen Waschlösungen, bevor er die Prozedur wiederholt.

Vorteile bietet die HTE-Anlage auch beim Rub-out-Test zur Beurteilung der Pigmentstabilisierung. Im Labor wird dazu mit dem Finger über die frisch applizierte Lackschicht gerieben. Sind die Pigmente nicht ausreichend stabilisiert, führen die eingebrachten Scherkräfte zu einer sichtbaren Farbveränderung der geriebenen Fläche. Die Kunst bei diesem Test besteht darin, beim Reiben kein Material zur Seite zu schieben oder gar Fehlstellen in der Lackschicht zu verursachen. Bei der HTE-Anlage tritt an die Stelle dieses Fingerspitzengefühls eine genau abgestimmte Steuerung, deren Parameter per Software für jedes Lacksystem individuell einstellbar sind.

Insgesamt entlastet die Anlage die Labormitarbeiter, weil sie langweilige Routinearbeiten übernimmt. Die Mitarbeiter können sich so auf die Planung der Experimente und die Auswertung der Daten konzentrieren.

Die Stärken der HTE-Anlage

1
Arbeitet vollautomatisch, liefert reproduzierbare Ergebnisse, ist flexibel einsetzbar
2
Formuliert Lacke aus einer großen Vielfalt verschiedener Rohstoffe
3
Charakterisiert die flüssigen Formulierungen vor Applikation
4
Beschichtet präzise die Panels und trocknet bzw. härtet den Lack
5
Charakterisiert die fertigen Beschichtungen
6
Erzeugt stetig wachsenden Datenpool als Basis für künftige Analysen per Data Mining

Rund um die Uhr flexibel einsetzbar

RaceLab ermöglicht es, alle Arbeitsabläufe im Detail zu planen. Mit bis zu 600 Parametern lassen sich 40 verschiedene Arbeitsschritte in der HTE-Anlage genau definieren. Evonik kann so die einzelnen Schritte frei zu einem Arbeitsablauf kombinieren und unterschiedlichste Wünsche der Kunden bearbeiten. Die HTE-Anlage ist also extrem flexibel einsetzbar – und zwar rund um die Uhr.

Zudem erfasst RaceLab auch alle Messdaten und erlaubt die Auswertung komplexer Untersuchungsreihen – ein enormer Vorteil, da in der HTE-Anlage in deutlich kürzerer Zeit wesentlich mehr Daten produziert werden als bislang im Labor. Damit entsteht auch ein stetig wachsender Datenpool, der sich künftig mit Methoden des Data Mining analysieren ließe. Als Folge könnte vielleicht sogar die Zahl der notwendigen Experimente wieder reduziert werden. Denn dann würde Rechnerintelligenz anhand der bereits vorhandenen Daten extrapolieren, was im Raum der Möglichkeiten angetroffen wird oder zumindest, wo eine nähere Erkundung lohnt. Die Kunden können so mithilfe von Evonik und der HTE-Anlage das Innovationstempo noch einmal erhöhen.

Fotos: Evonik Industries AG

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