Tödliche Landung: Phagen injizieren ihre Erbinformationen in ein Bakterium, sodass es weitere Phagen produziert – bevor es stirbt.

Tödliche Landung: Phagen injizieren ihre Erbinformationen in ein Bakterium, sodass es weitere Phagen produziert – bevor es stirbt.

Sind Phagen das neue Antibiotikum?

Lesezeit 2 Minuten

Was hilft gegen schädliche Bakterien, wenn Antibiotika machtlos sind? Bakterientötende Viren, sogenannte Phagen, könnten Menschenleben retten. Eigentlich eine altbekannte Therapie, doch das Wissen darum ging im Westen nach dem Zweiten ­Weltkrieg verloren. Für eine gesunde Zukunft könnte es wichtig werden.

ERSCHEINUNGSTERMIN26. Mai 2023

Illustration & TextBjörn Theis

Björn Theis leitet die Abteilung Foresight der Evonik-Innovationseinheit Creavis.

Die Rote Armee sah sich 1942 gleich mit zwei Gegnern konfrontiert. Zum einen mit der deutschen ­Wehrmacht, die ihr beim Rückzug nach Stalingrad schwer zusetzte, zum anderen mit einem unsichtbaren Feind, der immer mehr Verluste forderte: Die Cholera breitete sich unter den russischen Soldaten und der Zivilbevölkerung aus. Um die Situation in den Griff zu bekommen, schickte die Moskauer Führung Sinaida Wissarionowna Jermoljewa, eine führende Mikrobiologin der UdSSR, nach Stalingrad. Da die Stadt von medizinischem Nachschub abgeschnitten war, fasste Jermoljewa den Plan, sich die natürlichen Fressfeinde des Cholerabakteriums zunutze zu machen. Sie errichtete eine Bakteriophagenproduktion und stellte genug Anti-Cholera-Suspension her, um täglich 50.000 Menschen zu behandeln. Nach wenigen Tagen war die Epidemie in der Stadt gestoppt. Dass die Phagen im Kampf gegen Bakterien höchst wirkungsvoll sein können, ist über die Jahrzehnte vielerorts in Vergessenheit geraten. Zuletzt rückte die Therapie jedoch wieder stärker in den Blick der Forschung. Bakterio­phagen – kurz Phagen – sind Viren, die für ihre Vermehrung höchst spezifische Bakterien als Wirte erwählen. Ein Phage, der etwa Cholerabakterien befällt, kann auch nur diese infizieren, nicht jedoch menschliche oder tierische Zellen. Der Umgang mit Phagen ist daher recht sicher. Wie alle Viren docken sie an ihr Zielbakterium an, injizieren ihre Erbinformationen und programmieren es so um, dass es nach der Infektion weitere Phagen herstellt – so lange, bis keine Wirtsbakterien mehr übrig sind.

ZWEI FORSCHER, EINE ENTDECKUNG

Ihren Namen erhielten die Phagen 1917 vom französischen Mikrobiologen Félix Hubert d’Hérelle, der sie zeitgleich mit dem englischen Mikrobiologen Frederick Twort entdeckte. Beide beobachteten, dass sich in Bakterienfilmen Löcher bilden können, in denen die Bakterien absterben und sich nicht wieder ausbreiten. D’Hérelle vermutete, dass hierfür spezielle Mikroben verantwortlich sind, und taufte diese Phagen, abgeleitet vom griechischen Wort „phagein“ (essen). Sehen konnte er die Mikroben nicht, dies wurde erst 1931 mit der Erfindung des Transmissionselektronenmikroskops möglich. Dennoch begann d’Hérelle umgehend damit, Phagen­therapien gegen Pest und Cholera zu entwickeln. Mit Erfolg: In den folgenden zwei Dekaden verbreiteten sich kommerzielle Phagenprodukte in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und den USA rasant – bis in den 1940er-Jahren die Antibiotika auf den Markt kamen. Im Gegensatz zu den spezifischen Phagen töteten diese hochwirksam gleich alle Bakterien. Infolgedessen wurde die Phagenforschung im Westen fast gänzlich eingestellt, allein in der UdSSR wurde weiterentwickelt.

AUFHOLJAGD IM WESTEN

In Russland, Georgien und Polen sind Phagenprodukte seit Dekaden im Einsatz und frei erhältlich, während sie in den meisten westlichen Ländern nicht zugelassen sind. Nun scheint sich jedoch ein Umdenken abzuzeichnen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die rasante Ausbreitung von antibiotikaresistenten Bakterien. Weltweit sind 2019 rund 1,2 Millionen Menschen an Infektionen mit solchen resistenten Keimen verstorben. Schätzungen zufolge könnte sich diese Zahl bis 2050 auf zehn Millionen steigern. Um diesen resistenten Bakterien mit Phagen zu Leibe zu rücken, ist Forschung dringend erforderlich. Grundsteine sind gelegt: In Deutschland tagte 2017 das erste Nationale Forum Phagen, und das Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) hat begonnen, eine Sammlung potenziell therapeutischer Phagen anzulegen. In den USA sind bereits einige Phagenprodukte in der Lebensmittelproduktion zugelassen, beispielsweise um Infektionen mit Listerien zu vermeiden. Das Aufholrennen im Westen um funktionelle Phagen hat begonnen. Ein guter Grund für das Creavis-Foresight-Team, das Thema im neuen Foresight-Fokus „GameChanger 2040“ vertieft zu ­evaluieren – schließlich könnten sich ­Phagen in manchen Einsatzgebieten als nachhaltige und günstige Alternativen für Antibiotika eignen.

Foto: Getty Images
Illustration: Oriana Fenwick/Kombinatrotweiss mit Fotovorlage von Karsten Bootmann

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