Die Ernährungswissenschaftlerin Heike tom Dieck leitet die Forschung und Geschäftsentwicklung für Synbiotika bei Evonik in Hanau.

Die Ernährungswissenschaftlerin Heike tom Dieck leitet die Forschung und Geschäftsentwicklung für Synbiotika bei Evonik in Hanau.

Gesundheit beginnt im Darm

Lesezeit 7 Minuten

Mikroorganismen sind für unsere Verdauung und viele andere Körperfunktionen unverzichtbar. Wie Probiotika Einfluss auf die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft bei Mensch und Tier nehmen, ergründen Forscher bei Evonik.

ERSCHEINUNGSTERMIN24. September 2021

text ANNETTE LOCHER

Annette Locher ist Diplom-Biologin und seit 2012 bei Evonik tätig. Sie schreibt vor allem über Gesundheit, Ernährung und Nachhaltigkeit.

Wir brauchen unseren Darm, und unser Darm braucht uns.“ So formuliert Dr. ­Heike tom Dieck einen lebenswichtigen Zusammenhang, denn die Darmgesundheit spielt eine erhebliche Rolle beim Wohlbefinden. „Sie ist ein Schlüssel für unsere gesamte Gesundheit – für unsere Versorgung mit Nähr­stoffen, das Immunsystem, die Stoffwechselfunktionen und unsere Psyche“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin, die für Evonik in Hanau forscht. Ihr Ziel: den Befindlichkeiten jener Mikroorganismen auf die Spur kommen, die das Gleichgewicht im Darm positiv beeinflussen.

Eine ausgewogene, ballaststoffreiche Ernährung gilt dafür als Voraussetzung. Beim Abbau der Ballaststoffe durch Bakterien im Dickdarm entsteht unter anderem Butyrat, eine kurzkettige Fettsäure, die eine besondere Rolle spielt. Heike tom Dieck und ihr Team knüpften an diese Erkenntnis an: „Butyrat liefert den größten Teil der Energie für die Darmzellen. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Substanz für eine gesunde Darmschleimhaut und eine gute lokale Immun­abwehr unverzichtbar ist.“ Fehlt es im Darm an Butyrat, fällt es der Darmschleimhaut schwer, ihre Barriere- und Wächterfunktion zu erfüllen.

Evonik entwickelt eine Systemlösung für die Herstellung synbiotischer Produkte, die auch als Kapseln eingenommen werden können.

Diesen Ansatz hat das Forscherteam aufgegriffen und einen Weg gefunden, die Butyrat-Bildung durch die Darmbakterien zu steigern, indem es einen probiotischen, lebenden Bakterienstamm mit einem Proteinbaustein zusammengebracht hat. Tests hätten gezeigt, dass bereits jede Zutat für sich die Butyrat-Bildung durch die Bakterien steigere, so tom Dieck. „In Kombination ist der Effekt jedoch größer.“ Das Ergebnis eines solchen synergetischen Zusammenspiels nennen die Experten „synbiotisch“.

Diese wissensbasierte Entwicklung mündet nun in eine innovative Systemlösung für Geschäftskunden, die Anwendungen für das Darmgleichgewicht auf den Markt bringen wollen. „Neben der Wissenschaft liefern wir alle Zutaten und eine zielgruppenspezifische Posi­tio­nierung“, sagt tom Dieck, die die Forschung und Geschäftsentwicklung für Synbiotika bei Evonik leitet. „Unsere Formulierungen haben den Vorteil, dass sie neben den innovativen Kombinationen für die Verbraucherkommunikation zulässige Aussagen über einen bestimmten gesundheitlichen Nutzen – sogenannte Health Claims – ermöglichen.“

bis zu
100 BILLIONEN
Bakterien und Pilze bilden Schätzungen zufolge das menschliche Mikrobiom.

Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt, zu dem das Team auch eigene Feldversuche unternimmt: „Das regulatorische Umfeld ist im Bereich der Nahrungsergänzung sehr komplex. In der EU sind beispielsweise für probiotische Bakterien gesundheitsbezogene Aussagen nicht ohne Weiteres erlaubt“, erläutert tom Dieck. Zusätz­liche Inhaltsstoffe erlaubten es jedoch, den potenziellen Nutzen des Produkts besser zu verdeutlichen.

Stefan Pelzer, Leiter der Mikrobiom-Forschung in der Biotechnologie-Einheit von Evonik

DIVERSITÄT HÄLT GESUND

Einen wichtigen Anteil an der Entwicklung von Synbiotika hat die Forschung zu Mikrobiom und Darm­gesundheit im westfälischen Halle-Künsebeck. Professor Dr. Stefan Pelzer befasst sich seit 2013 mit den Mikro­organismen im Verdauungstrakt. Ging es zu Beginn vor allem um die Frage, wie sich Nutztiere ohne Antibiotika gesund und gleichzeitig produktiv halten lassen, beschäftigt sich sein Team jetzt auch mit dem mensch­lichen Mikrobiom – ob im Darm oder auf der Haut.

„Bei rund 90  Prozent aller Erkrankungen sehen Wissenschaftler heute einen Zusammenhang mit dem Darmmikrobiom“, sagt der Mikrobiologe. Die Zahl der Bakterienzellen im Menschen übertrifft die der körper­eigenen Zellen um den Faktor 1,3 – die meisten finden sich im Dickdarm. Manchen mag das beunruhigen. Beunruhigend sei jedoch vielmehr das Gegenteil, sagt Pelzer. „Bei zahlreichen Erkrankungen und auch mit dem Alter verändert sich die Zusammensetzung der Mikrobiota, also der Bakteriengemeinschaft. Vor allem aber nimmt die Bakterienvielfalt im Darm ab.“ Damit einher geht ein Verlust bakterieller Stoffwechselprodukte, die wie Butyrat für die menschliche Gesundheit notwendig sind. „Die wissenschaftlichen Hinweise verdichten sich, dass die abnehmende Diversität des Mikrobioms die Widerstandsfähigkeit und Fitness des Körpers beeinträchtigen.“

»Bei rund 90 Prozent aller Erkrankungen sehen Wissenschaftler heute einen Zusammenhang mit dem Darmmikrobiom.«

STEFAN PELZER, LEITER DER MIKROBIOM-FORSCHUNG IN DER BIOTECHNOLOGIE-EINHEIT VON EVONIK

Geht es also darum, Leistungsstärke und Resilienz von Mensch und Tier zu fördern, führt der Weg heute nicht selten über die Anpassung des Mikrobioms, etwa mittels probiotischer Produkte, die lebende Bakterien beinhalten. Diese geben vielfältige Impulse – entweder direkt, indem sie Substanzen wie Milchsäure bilden, oder indirekt, indem sie die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen.

Das Hühnerdarm-Modell

Bis zu fünf Glasgefäße, die durch Schläuche und Röhren miteinander verbunden sind, Reagenzien und Messgeräte – seit 2018 steht den Evonik-Forschern in Halle-Künsebeck das Modell eines Hühnerdarms zur Verfügung. Die weltweit einzigartige Simulation wurde im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Innovationsallianz GOBI („Good Bacteria and Bioactives in Industry“) entwickelt. Für jeden Abschnitt des Verdauungstrakts und sein spezifisches Milieu steht ein Glasgefäß. In Reihe geschaltet, simulieren sie das Geschehen im gesamten Verdauungssystem. Die Bakterien werden mit Magensäure, Gallensalzen, Enzymen, die Nahrung abbauen, konkurrierenden Mikroben und anderen Belastungen nacheinander konfrontiert – in natürlicher Reihenfolge und realistischer Zeit. Die Forscher können an jeder Stelle Proben ziehen und schauen, wie die Bedingungen die probiotischen Bakterien beeinflussen und umgekehrt.

Das erste von Evonik entwickelte Probiotikum war für Hühner bestimmt. Probiotika stärken die ausge­wogene Zusammensetzung und Widerstandsfähigkeit des natürlichen Mikrobioms, was eine Ansiedlung von patho­genen Keimen wie Clostridium perfringens erschwert. Dieser Krankheitserreger verursacht weltweit große wirtschaftliche Schäden in der Hühnerhaltung. Das Produkt Gutcare, das einen Stamm von Bacillus subtilis enthält, wird seit 2017 erfolgreich in den USA, in China, Indien sowie weiteren Ländern vermarktet und soll den Einsatz von Antibiotika als präventivem Futter­bestandteil im Hühnerstall reduzieren.

Pelzer reichte es aber nicht, die Wirksamkeit in der Petrischale und im Fütterungstest nachzuweisen. Er wollte genauer verstehen, wo was im Hühnerdarm ­passiert. Hierzu war ein Modell erforderlich, das den Hühnerdarm und das physiologische Geschehen darin simuliert. Die Forscher interessieren sich besonders dafür, ob Magen- und Gallensäuren probiotische Produkte hemmen und wie sie die Mikro­biom-Zusammensetzung im Darm verändern. Ver­größert oder verringert sich die Vielfalt? Verschieben sich die Anteile charakteristischer Bakteriengruppen? Und werden verstärkt kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat gebildet?

Mindestens
1.000 BAKTERIELLE ARTEN
sind im menschlichen Verdauungstrakt vertreten.

All das lässt sich mittels Genomsequenzierung her­ausfinden. Dabei wird die Gesamtheit der Gene einer Bakterienprobe aus dem Darmmodell analysiert. „Vor 20 Jahren hätte eine solche Analyse noch zigtausend Dollar gekostet und viele Monate gedauert“, sagt Pelzer. „Heute bekommen wir sie für ein paar Hundert Dollar in wenigen Wochen oder bei gezielten Fragestellungen sogar in Echtzeit direkt vor Ort.

Bioinformatiker sind in der Lage, aus diesen Daten eine grobe Verteilung der vorhandenen Bakteriengruppen zu erstellen und mögliche Veränderungen zu erkennen. Sie können aus den Gensequenzen sogar ab­lesen, welche Fähigkeiten eine Bakteriengesellschaft besitzt – zum Beispiel ob sie bestimmte Metabolite, also Zwischenprodukte in einem biochemischen Stoffwechselweg, produziert.

In Tiefkühlschränken sind bei minus 80 Grad die Bakterienstämme aufbewahrt, an und mit denen Evonik forscht.

In Tiefkühlschränken sind bei minus 80 Grad die Bakterienstämme aufbewahrt, an und mit denen Evonik forscht.

MODELLE ERLAUBEN VORHERSAGEN

Die in Halle-Künsebeck erarbeiteten Kompetenzen können in die Entwicklung neuer Probiotika für Mensch und Tier einfließen. „Unsere Modelle sind ­inzwischen so gut, dass sie uns sehr verlässliche Vorhersagen über das Verhalten unserer Produkte im leben­den Orga­nismus erlauben“, sagt Pelzer. Das beschleunigt die Entwicklung und spart Tests am lebenden Objekt.

So auch bei den synbiotischen Produktkonzepten, die Heike tom Dieck und ihr Team vorantreiben. Die ersten Erkenntnisse brachten Stuhlproben, die mit Bakterienstämmen und bestimmten Substanzen kul­tiviert wurden. Dann wurde untersucht, wie sich die Mikro­biom-Gemeinschaft veränderte und welche Stoffwechselprodukte vorhanden waren. „Schon in diesem einfachen Modell sahen wir bei einigen Sub­stanzen und Bakterien deutliche Effekte“, sagt tom Dieck. „Die Zusammensetzung des Mikrobioms veränderte sich, und wir fanden mehr Butyrat.“ Und bei mancher Kombination von Bakterium und Substanz verstärkte sich deren Effekt sogar.

links: In Tests werden die Fähigkeiten von Bakterien unter verschiedenen Bedingungen erprobt und analysiert.
rechts: Auf dem MinION, einem portablen DNA-Sequenziergerät, analysieren Forscher die Bakterienproben vor Ort und werten sie bioinformatisch aus.

Die Kombination aus probiotischem Bakterium und Dipeptid beeinflusst offenbar das Mikrobiom zugunsten der Butyrat bildenden Arten. „Die Substanz wird von verschiedenen Gruppen von Darmbakterien auf unterschiedlichen Wegen produziert“, erläutert tom Dieck. „Hier wollte die Evolution wohl auf Nummer sicher gehen.“ Das Darmmikrobiom unterscheidet sich von Individuum zu Individuum und wird auch vom Lebensstil beeinflusst. Dennoch konnten zahlreiche weitere Tests zeigen: Die Kombination von Bacillus subtilis und einem aus zwei Aminosäuren bestehenden Peptid führte zu erhöhten Butyrat-Werten. Dazu ist aber erforderlich, dass dieses Dipeptid und das Bakterium gemeinsam den Beginn des Dickdarms erreichen, wo Butyrat bildende Bak­te­rien angesiedelt sind.

Ein geschützter Transport durch den Verdauungstrakt, das war den Forschern damit klar, ist also entscheidend. Im eigenen Haus fand sich eine Lösung für dieses Problem: die für Nahrungsergänzungsmittel entwickelte Schutzhülle Eudraguard biotic. Die Kapsel „erkennt“ den Übergang vom Dünndarm zum Dickdarm am pH-Wert-Anstieg, löst sich genau an dieser Stelle auf und gibt ihre Inhaltsstoffe dort frei, wo sie ­gebraucht werden.

»Schon in einem einfachen Modell sahen wir bei einigen Substanzen und Bakterien deutliche Effekte.«

HEIKE TOM DIECK, LEITERIN DER SYNBIOTIKA-FORSCHUNG

INDIVIDUELLE LÖSUNGEN

An einem Modell ähnlich dem künstlichen Hühnerdarm in Halle-Künsebeck konnten die Synbiotik-­Forscher genau nachvollziehen, wie sich die Kapseln mit Bakterium und Dipeptid im menschlichen Ver­dauungstrakt verhalten. Sie zeigten, dass Bakterium und Dipeptid den Zielort im Dickdarm erreichen und dass dies mit einem Anstieg der Butyrat-Bildner im Dickdarm einhergeht. Das hat nun auch eine kleine Pilotstudie am Menschen bestätigt.

Bis zu
2 KILOGRAMM
mikrobielle Biomasse entfallen auf jeden Menschen.

Für die Forscherteams bei Evonik ist das Thema damit jedoch längst noch nicht erschöpft. Die Arbeit an weiteren pro- und synbiotischen Entwicklungen dauert an. Die Individualität des Darms und seines Gleich­gewichts führt zu vielen weiteren Fragestellungen, etwa: Gibt es Möglichkeiten, den jeweils persönlichen Zustand zu ermitteln – und mithilfe von Bakteriengemeinschaften gezielt und individuell darauf Einfluss zu nehmen? Wenn dies gelingt, eröffnet sich eine Vielzahl neuer Möglichkeiten für Wissenschaft und Praxis.

Fotos: Ramon Haidl (2), Robert Eikelpoth (6)

Illustration: Oriana Fenwick / Kombinatrotweiss mit Fotovorlage von Karsten Bootmann / Evonik

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