Effektive Wundheilung

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Die Haut schützt den Menschen vor Kälte und Wärme, Strahlung und Krankheitserregern. Wird sie verletzt, ist schnelle Hilfe geboten. Im Projekthaus Tissue Engineering entwickelt Evonik innovative Materialien und Prozesse, um die Züchtung von Gewebe im Labor zu verbessern und damit neue Therapien zur Heilung menschlicher Haut zu ermöglichen.

TEXTMICHAEL STANGE

Enthaltene Medien

Die Hoffnung von Millionen Menschen ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Etwa 10 bis 15 Mikrometer klein sind die Hautzellen, ein Zehntel so dünn wie ein menschliches Haar. Sie sind umgeben von einem flüssigen Teppich aus Nährstoffen, Salzen, Zucker, Spurenelementen, Aminosäuren. Mehr als 300 Zu­taten insgesamt. Das vollständige Lieblingsrezept der Zellen kennt keiner. Noch nicht. Aber genau darauf kommt es an, wenn Zellen sich vermehren sollen. Ein solches Rezept könnte das Leben von Menschen auf der ganzen Welt verbessern, die unter schweren Verbrennungen oder offenen Wunden leiden. Deswegen forschen Evonik-­Wissenschaftler an neuen Materialien und Prozessen zur Kultivierung von Zellen und zur Herstellung von künstlichem Gewebe.

Die Forscher sind eingebunden in das von Evonik in Singapur gegründete Projekthaus Tissue Engineering. Hinter dem Namen verbirgt sich ein interdiszi­pli­näres Forschungsgebiet. Hier werden die Grundlagen des Ingenieurwesens sowie der Chemie einerseits und der Biowissenschaf­ten andererseits angewendet. Das Ziel ist die Entwicklung der nächsten Generation Nährstoff­lösungen, Trägermaterialien und Kultivierungsprozesse. Sie sollen es der Branche ermöglichen, kommerziell erfolgreich biologische Ersatzstoffe zu produzieren, die die Gewebefunktion wiederherstellen, aufrechterhalten oder verbessern.

GEEIGNET FÜR MEDIZIN UND THERAPEUTISCHE ANSÄTZE

Mit dem Projekthaus Tissue Engineering will Evonik diese künstliche Herstellung von biologischem Gewebe mithilfe kultivierter Zellen noch besser verstehen und neuartige Lösungen entwickeln. „Und zwar für nicht medizinische Anwendungen ebenso wie für innovative therapeutische Ansätze – etwa für die Regeneration menschlicher Haut nach Unfällen oder Krankheiten“, erklärt Alexander König. Der 38-Jährige ist ­Chemiker und arbeitet seit vier Jahren bei Evonik. Vor einem Jahr erhielt er das Angebot, die Leitung des neuen Projekthauses zu übernehmen. Zwei Wochen später saß er im Flugzeug Richtung Asien.

Seitdem ist König regelmäßig zwischen Singapur, den USA und Deutschland unterwegs und koordiniert das internationale Team. Bis zu 20 Forscher aus unter­schied­lichen Unternehmenseinheiten arbeiten in Singa­pur eng zusammen mit Kollegen in Birmingham (Ala­bama) und Darmstadt, wo Evonik bereits umfangreiche Kompetenzen in den Bereichen medizinischer und kosmetischer Anwendungen aufgebaut hat. Mindestens drei Jahre lang forschen König und sein Team an neuen funktionalen Materialien, Verarbeitungstechnologien sowie an Verfahren zur Kultivierung von Gewebearten. Ein Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der Zelltherapie, ein weiterer auf künstlicher Haut.

CHRONISCHE WUNDEN SIND WEIT VERBREITET

„In Singapur gibt es Topuniversitäten und eine Vielzahl von Fachleuten für medizinische Entwicklungen“, sagt König. „Wir arbeiten an einigen offenen Fragen, deswegen brauchen wir Zugang zu Experten verschiedens­ter Disziplinen.“ Zu diesen Experten zählt Zee ­Upton. Die 56-Jährige ist Biochemikerin und leitet das Institut für medizinische Biologie der Agency for ­Science, Technology and Research (A-Star) in Singapur. Ihre Forschung zur Wundheilung sowie zur Züchtung und ­Reparatur von Gewebe ist international anerkannt. „Chronische Wunden wie diabetische Fußgeschwüre, venöse Beingeschwüre oder Druckgeschwüre sind ein riesiges Gesundheitsproblem“, sagt Upton. „Zwei bis sechs Prozent der Weltbevölkerung leiden darunter.“

»Für unsere Kunden in Pharma- und Kosmetikindustrie ergäben sich interessante Anwendungen.«

ALEXANDER KÖNIG

LEITER DES PROJEKTHAUSES TISSUE ENGINEERING

Sie fordert, dass Forscher verstärkt untersuchen, wie man chronische Wunden bestmöglich versorgen kann. Der Medizin stünden zwar spezielle Wundauf­lagen und Verbände zur Verfügung. „Aber es gibt noch keine befriedigende Behandlung zur Heilung.“ Damit weist Upton auf nur eine von mehreren Herausforderungen hin, denen man mithilfe des Tissue Engineering begegnen könnte – und die die Forscher im Projekthaus nun angehen.

KULTIVIERTE ZELLEN ERZEUGEN HAUTIMITAT

Eines der Ziele der Wissenschaftler ist es, mithilfe kultivierter Zellen künstliches Gewebe zu erzeugen, das dem natürlichen Vorbild der Haut sehr nahekommt. Verschiedene Arten menschlicher Zellen interagieren genauso wie im Körper, so weit der Plan. Das möglichst realistische Abbild der Haut soll die zwei Schichten – Epidermis, also die Oberhaut, und Dermis, auch Lederhaut genannt – enthalten und mittels 3D-Druck idealer­weise sogar Blutgefäße, die das Gewebe aus dem Labor mit ausreichend Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. „Gelingt uns dies, ergäben sich nicht nur für Forscher wie Zee Upton, sondern auch für unsere Kunden in der Pharma- und Kosmetikbranche interessante Anwendungen“, sagt König. Dazu zählen neue Lösungs­ansätze zur Wundheilung durch Zelltherapie, sogenannte Hautmodelle für In-vitro-Tests und die Züchtung von patienteneigenen Transplantaten – laut König die größte Herausforderung.

Aber der Reihe nach: Kultivierte Zellen oder gar Hautgewebe aus dem Labor könnten für neuartige Zelltherapien in der Wundheilung zum Einsatz kommen. Dazu würden Zellen eines Patienten entnommen und in vitro kultiviert beziehungsweise vermehrt werden. Anschließend werden die Zellen wieder eingebracht, um die Heilung des geschädigten Organs – in diesem Fall der Haut – zu beschleunigen.

Alexander König prüft die Lösung aus Trägermaterial und Nährmedium, in der sich die Hautzellen vermehren.
Alexander König prüft die Lösung aus Trägermaterial und Nährmedium, in der sich die Hautzellen vermehren.

Worauf die Forscher im Projekthaus bauen können

Mit dem Projekthaus Tissue Engineering geht Evonik einen weiteren Schritt in Richtung des strategischen Ausbaus der Aktivitäten rund um medizinische Anwendungen. Das ehemalige Projekthaus Medical Devices ist inzwischen ein weltweit einzigartiges, etabliertes Kompetenzzentrum in diesem Bereich. Der Fokus liegt hier auf der Entwicklung neuer bio­kompatibler Materialien sowie deren Verarbeitungstechnologien für Implantate im Bereich orthopädischer und kardiovaskulärer Anwendungen. Diverse Produkte wurden erfolgreich im Markt platziert. Darauf aufbauen kann das Team des Projekthauses Tissue Engineering, in dem es nun um die Zucht von ganzem künstlichen Gewebe geht. Bereits seit Jahren etablierte Technologien und Produkte des Spezialchemieunternehmens ergänzen die Forschungsarbeit: Tierfrei hergestellte Aminosäuren und Derivate sowie Additive (sogenannte Booster) für die zellbasierte Herstellung bio­logischer Wirkstoffe zählen ebenso dazu wie das Know-how im Bereich kosmetischer Testverfahren und Hautmodelle.

Bei der nächsten Anwendung, den sogenannten Hautmodellen, handelt es sich um möglichst realistische Nachbildungen, die allein zu Forschungs- und Testzwecken genutzt werden. Zwar verkaufen bereits einige kommerzielle Anbieter solche Gewebe aus dem Labor. „Diese bilden die Realität jedoch noch nicht gut genug ab“, sagt König. „Viele Testergebnisse lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen.“ Bei manchen Modellen sei die Schutzbarriere etwa 100-mal durchlässiger als in der Natur, und der Dermis fehlten die Blutgefäße. Evonik will dazu beitragen, dass Hautmodelle optimiert – und Ergebnisse zuverlässiger werden, wenn es darum geht, neue Arzneistoffe, kosmetische Wirkstoffe oder Reinigungsmittel zu testen.

»Die Zellen müssen sich wie in ihrer natürlichen Umgebung fühlen.«

ALEXANDER KÖNIG

Eine Weiterentwicklung, die zukünftig etwa bei Transplantationen eingesetzt werden könnte, wäre mit diesem Wissen ebenso denkbar. Auch hier gab es bereits erste Erfolge: 1993 gelang es japanischen Forschern der Kitasato-Universität erstmals, Hautersatz zu züchten und erfolgreich auf die Brandwunde eines Mannes zu transplantieren. „Doch bis heute konnten weder Verfahren noch Materialien etabliert werden, die problemlos reproduzierbar gewesen wären“, sagt König.

Frau am Bildschirm eines 3D-Druckers
Mit einem 3D-Drucker lassen sich unter anderem Blutgefäßstrukturen aus verschiedenen Materialien herstellen.

Die Gründe dafür, dass keine der drei Anwendungen bislang standardisiert werden konnte, sind ebenso vielfältig wie anspruchsvoll: Entwicklung und Kultivierung von künstlich hergestelltem biologischen Gewebe sind teuer und aufwendig, was nicht zuletzt an der Komplexität der Haut liegt. Sie ist das größte Organ des Menschen und besteht aus rund 120 Milliarden Zellen. Die verschiedenen Zell- und Gewebetypen müssen gemeinsam mit den oberen beiden Hautschichten funktionieren, um den Körper vor Krankheitserregern, Wärme, Kälte und UV-Strahlen zu schützen. Auch eine Kopie aus dem Labor muss diese Funktionen erfüllen.

VON DER ZELLE BIS ZUM HAUTSTÜCK

Damit sich die Zellen im Labor nicht nur vermehren, sondern auch genauso organisieren wie im mensch­lichen Körper, brauchen sie einen geeigneten Mix aus Nährstoffen, Wachstumsfaktoren und einen Träger. Die Nährstofflösung mit all ihren Zutaten, das sogenannte Zellkulturmedium, wird zunächst erwärmt – auf 37 Grad Celsius, denn Zellen fühlen sich bei Körpertemperatur am wohlsten. Dann wird die Flüssigkeit in Plastik­schalen gefüllt, die mit einem gelartigen Trägermaterial beschichtet sind. Über eine Pipette werden die Zellen hinzugeträufelt, ein Zelltyp pro Schale: Aus den Keratino­zyten entsteht die Epidermis, die oberste Schutzschicht der Haut. Der andere Zelltyp, die Fibro­blasten, bildet die darunterliegende Schicht, die ­Dermis. Schließlich kommen die Zellen in ihren jeweiligen Schälchen in den Brutschrank, um zu reifen und sich zu vermehren. Sobald sich genug gebildet haben, werden die Zelltypen unter Zugabe von Wachstumsfaktoren zu einem zweischichtigen Modell zusammengeführt. Dann geht es zurück in den Brutschrank, für zwei bis drei Wochen, so lange, bis sich die Zellen verbunden haben zu einer festen, durchsichtigen Haut von der Größe eines Eincentstücks.

„Diesen langwierigen Prozess wollen wir zunächst einmal vereinfachen und beschleunigen“, sagt König. „Viele Schritte müssen von Hand erledigt werden. Dadurch kann das Produkt abweichen – und die Reproduzierbarkeit gefährdet werden.“ Diese Gefahr droht aber auch noch an anderer Stelle: beim Material.

„Sowohl Träger als auch Nährlösung basieren nach heutigem Standard auf Produkten tierischen Ursprungs. Daher schwankt die Zusammensetzung von Charge zu Charge, was eine Zulassung bei den klinischen Gesundheitsbehörden erschwert.“ Die Auswirkungen auf die Forschung sind so weitreichend, dass die Kultivierung mitunter stark verlangsamt stattfindet oder das Präparat gar ganz verdirbt. Hinzu kommt: Produkte aus Rindern, wie das in der Nährstofflösung oft verwendete bovine Serum, bergen das Risiko einer Kontamination mit Krankheitserregern, etwa dem Auslöser der BSE (bovine spongiforme Enzephalopathie).

„Deshalb forschen wir nicht nur an innovativen Verfahren, sondern auch daran, die eingesetzten Materialien zu optimieren“, sagt Alexander König. Chemisch hergestellte synthetische Materialien können tierische Produkte ersetzen, wenn sie über deren biologische Kompatibilität sowie die richtigen mechanischen und physikalischen Eigenschaften verfügen. „Auf dem Trägermaterial zum Beispiel müssen sich die Zellen wie in ihrer natürlichen Umgebung fühlen. Wir brauchen daher ein funktionales Material, das das Zellwachstum anregt und das wir variieren können, je nachdem, ob wir zum Beispiel Knochen- oder Haut­zellen züchten.“

Hautzellen unter Mikroskop
Die Entwicklung der 10 bis 15 Mikrometer kleinen Hautzellen ist nur mithilfe eines Mikroskops zu erkennen.

EINZIGARTIGES KOMPETENZZENTRUM

Hier können König und sein Team auf Know-how zurückgreifen, das bereits im Vorgänger-Projekthaus Medical Devices in Birmingham – heute ein etabliertes und weltweit einzigartiges Kompetenzzentrum in diesem Bereich – aufgebaut werden konnte, wie etwa die Herstellung und Prozessierung von biokompatiblen Kunststoffen. „Das Wissen, das dort zu Medizinprodukten wie Implantaten generiert wurde, nutzen wir im Projekthaus Tissue Engineering und entwickeln es weiter.“

Einen weiteren Grundbaustein für die erfolgreiche Kultivierung von Zellen hat Evonik bereits im Portfolio. Schon seit vielen Jahren beliefert das Unternehmen Hersteller von Zellkulturmedien mit tierfrei hergestellten Aminosäuren und Derivaten. Zudem wurde in den vergangenen Jahren das Geschäft mit leistungssteigernden Additiven für die zellbasierte Herstellung biologischer Wirkstoffe ausgebaut. „Der Wechsel auf ­Medien ohne tierische Komponenten ist dort bereits gelungen. Diesen Schritt wollen wir nun auch im Bereich der Hautzellkultivierung erforschen“, sagt König.

„Unsere Vision ist es, bereits vorhandene Kompetenzen, weitere Forschungsaktivitäten und externe Exper­tise in effiziente Lösungen münden zu lassen, die problemlos reproduzierbar sind“, sagt König. Wenn das Projekthaus so weit ist, möchte Evonik neue Träger­materialien und Nährlösungen für Gewebekultivierung zur kommerziellen Nutzung anbieten. „Im Idealfall ­gelingt es uns, einen Beitrag dazu zu leisten, die Hoffnung von Millionen Menschen auf effektivere Therapie­ansätze zu erfüllen.“

Fotos: Cory VanderPloeg/Gallery Stock, Evonik Industries (4)

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