AUF DIREKTEM WEG

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Evonik hat ein neues Verfahren zur effizienten und umweltschonenden Herstellung von ­Propylenglykol entwickelt. Gemeinsam mit dem US-Konzern Dow wird die Technologie nun zur Marktreife gebracht.

TEXTHANNS-J. NEUBERT

Manchmal braucht es den Blick zurück, damit etwas richtig vorwärtsgeht. Vor acht Jahren stieß Holger Wiederhold, Forscher im Geschäftsgebiet Active Oxygens von Evonik, auf eine jahrealte Notiz in einer Datenbank. Bernd Jaeger, damaliger Forschungsleiter bei Evonik, hatte dort seine Gedanken zu einer sogenannten Direktsynthese von Propylenglykol hinterlassen. Statt das begehrte Produkt in mehreren aufwendigen Schritten über Vorprodukte herzustellen, so Jaeger, verspreche die Synthese in einem Schritt erhebliche Vorteile.

Doch Jaeger fehlte damals ein passender Lösungsansatz. Deshalb schrieb er sein Projekt in die unternehmensinterne Datenbank. In diesem Ideengedächtnis speichern Evonik-Forscher Vorschläge, für die sie noch keine technischen Umsetzungsmöglichkeiten sehen, aber hoffen, dass jemand diese eines Tages findet.

Als Wiederhold Jaegers Notiz las, kam ihm spontan eine Idee, wie die Synthese chemisch funktionieren könnte. „Das war der Startpunkt von HYPROSYN™“, sagt der Chemiker. Seit 2013 wird das Projekt zur günstigen und nachhaltigen Direktsynthese von Propylen­glykol durch das Geschäftsgebiet Active Oxygens in den Laboren der Verfahrenstechnik entwickelt.

Die Nachfrage nach Propylenglykol ist groß, und sie wächst jährlich um 2,5 Prozent. Es steckt nicht nur in Frostschutz- und Schmiermitteln, sondern auch in glasfaserverstärkten Kunststoffen, in Reinigungs- und Waschmitteln oder in Latexwandfarben. Auch für die Lebensmittelindustrie ist der Stoff unverzichtbar. Er verleiht nicht nur Kaugummis die gewünschte Kon­sistenz, sondern macht auch Gebäck weich und hält verpackte Nahrungsmittel feucht. Bauern behandeln damit sogar Stoffwechselerkrankungen bei ihren Milchkühen. „Propylenglykol hat sich zu einem Allround-Bestseller entwickelt“, sagt Thomas Bode, der bei Evonik für die HYPROSYN™-Technologie verantwortlich ist. Derzeit werden weltweit pro Jahr rund zwei Millionen Tonnen Propylenglykol verarbeitet. Um den steigenden Bedarf zu decken, arbeiten Entwickler seit Jahren an neuen Lösungen.

EIN VORPRODUKT FÜR VIELE ANWENDUNGEN

Bei Evonik machte sich ein Kernteam von vier Mitarbeitern an die Arbeit, eine neue Form der Propylen­glykol-Synthese zu entwickeln. „Um das Verfahren auszufeilen, brauchten wir allerdings die Unterstützung weiterer Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen“, erläutert Wiederhold. So trugen zahlreiche Mitarbeiter aus dem ganzen Unternehmen ihr Wissen zu dieser Entwicklung bei.

Bislang wird zur Herstellung von Propylenglykol oft zuerst Propylenoxid produziert. Zur Herstellung dieses Vorprodukts hat Evonik in Kooperation mit Thyssenkrupp nach der Jahrtausendwende das sogenannte HPPO­-Verfahren entwickelt. Die Abkürzung steht für Hydrogen Peroxide to Propylene Oxide. 2008 wurde das Verfahren erstmals für eine Anlage in Südkorea lizenziert, die inzwischen über 130.000 Tonnen Propylen­oxid produziert. Gegenüber klassischen Synthesen, bei denen man beispielsweise Chlor oder Benzol benötigt, kommt hier neben Propylen nur Wasserstoffper­oxid (H₂O₂) zum Einsatz, das Evonik liefert. Als Nebenprodukt entsteht lediglich Wasser.

Von der Tiermedizin bis hin zur Luftfahrt – die Einsatzbereiche für Propylenglykol sind vielfältig.

Das Zwischenprodukt Propylenoxid ist überaus begehrt: Ein Fünftel der Produktion wird zur Synthese von Propylenglykol verwendet. Zwei Drittel werden weiterverarbeitet zu Polyetherpolyolen, die man über Zwischenstufen zu Polyurethan-(PU)-Produkten verarbeitet, beispielsweise Bauschäume oder Farbgrundierungen. Der Rest dient als Ausgangsstoff für andere wertvolle Chemikalien. Die Nachfrage nach Propylen­oxid wuchs zuletzt sogar noch schneller als die nach Propylenglykol: um etwa vier Prozent auf rund elf Millionen Tonnen.

Um den Bedarf auch in Zukunft decken zu können, könnte man also weitere Propylenoxid-Anlagen bauen. Jede Anlage kostet jedoch einen dreistelligen Millionen-­€-Betrag. Oder aber man erforscht innovative Lösungen, die zugleich neue Möglichkeiten für den Einsatz umweltschonenden Wasserstoffperoxids eröffnen. „Der zweite Weg erschien uns deutlich attraktiver“, sagt Projektleiter Wiederhold.

»Propylenglykol hat sich zu einem Allround-Bestseller entwickelt.«

THOMAS BODE

Leiter Performance Oxidants bei Evonik

Der Schlüssel zum Erfolg, der Wiederhold zum Durchbruch verholfen hat, liegt in einem neu entwickelten Katalysatorsystem. Es ist jetzt möglich, das Propylen­glykol in nur einer einzigen Reaktion aus Propylen und Wasserstoffperoxid herzustellen – ohne den Umweg über das Propylenoxid. Ein Katalysator sorgt generell dafür, dass eine chemische Reaktion erleichtert und beschleunigt wird. Besonderer Charme dieser Lösung: Einige Komponenten des neuen Katalysators wurden bei Evonik bereits in anderen chemischen Prozessen eingesetzt. „Die Kombination unterschiedlicher Einsatzstoffe sorgt zusammen mit speziellen technischen Verfahren dafür, dass der Katalysator über lange Zeit stabil bleibt“, so Wiederhold. „Außerdem werden die Grundstoffe Propylen und Wasserstoffper­oxid durch ihn besonders effizient und energiesparend umgewandelt.“

ERSCHEINUNGSTERMIN

13. MÄRZ 2020

ERFAHRUNG MIT H₂O₂ ZAHLT SICH AUS

Das HYPROSYN™-Verfahren ist somit nicht nur güns­tiger als die bislang eingesetzte Technologie, es er­möglicht auch eine merklich höhere Ausbeute bei deutlich geringerem Energiebedarf. Wie schon bei der ­HPPO-Synthese entstehen außer Wasser keine Koppelprodukte, die man abtrennen müsste. Was im Labor schon hervorragend funktionierte, wird jetzt in eine ­Pilotanlage mit einer 160-mal höheren Kapazität überführt: Statt 50 Gramm werden nun 8 Kilogramm Propylen­glykol pro Stunde produziert. 2021 soll die Anlage in Hanau fertig sein. „Sie wird dann ein Jahr lang betrieben, um den Prozess zu verbessern und die Ergebnisse zu verifizieren“, sagt Evonik-Manager Bode. Die Marktreife von ­HYPROSYN™ wird für 2022 erwartet.

Dass es überhaupt so kommen konnte, liegt nicht zuletzt an der mehr als 100 Jahre langen Erfahrung von Evonik in der Peroxidchemie. H₂O₂ ist für das Unternehmen eines der wichtigsten Verkaufsprodukte. Der Stoff kommt in zahlreichen Anwendungen zum Einsatz. Wurde er anfangs vor allem als Textil- und Papier­bleiche sowie als Desinfektionsmittel genutzt, wird er heute unter anderem in der Elektronikindustrie für die Reinigung von Platinen oder Halbleitern zur Herstellung von LCD-Bildschirmen verwendet. In Raketen treibt Wasserstoffperoxid die Turbopumpen an, die den eigentlichen Kraftstoff in die Brennkammern drücken. Mit der ­HYPROSYN™-­Technologie eröffnet sich jetzt ein zusätzlicher Absatzmarkt.

Evonik ist ein weltweit führender Hersteller von H₂O₂ mit 18 Produktionsstandorten und einer Jahres­kapazität von über einer Million Tonnen. Das Unternehmen hat sich vor allem als Spezialist für die Produktion hochkonzentrierten Wasserstoffperoxids etabliert.
Bei der bekannten HPPO-Synthese wird 70-prozentiges H₂O₂ verwendet. Üblich sind Konzentrationen von 50 und weniger Prozent. Evonik kann H₂O₂ sogar in ­einer Konzentration von 98 Prozent liefern, ein Spitzen­wert in der industriellen Herstellung von Wasserstoffperoxid.

NEUES LEBEN FÜR ALTE ANLAGEN

Doch die Vorteile des neuen Verfahrens reichen weiter. Schließlich läuft die Reaktion von Propylen und Wasser­stoffperoxid wie beschrieben in nur einem einzigen Reaktor ab. Damit wird das bisherige Vorprodukt Propylenoxid überflüssig. Durch die kostengünstige Umrüstung vorhandener Propylenglykol-Anlagen auf ­HYPROSYN™ wird das bisher benötigte Propylenoxid freigesetzt und kann somit zusätzlich als Grundstoff für PU-Erzeugnisse verwendet werden. So kann die neue Technologie als intelligente Methode zur indirekten Kapazitätserweiterung von Propylenoxid-Anlagen aufgefasst werden. Weil zudem mit Einführung der ­HYPROSYN™-Technologie die Herstellung von Pro­py­len­glykol und Propylenoxid unabhängig voneinander gesteuert werden kann, lassen sich die Produktionsmengen der Stoffe leichter an die Nachfrage anpassen.

Evonik entwickelt die neue Technologie nun gemeinsam mit Dow bis zur Marktreife weiter. Der US-Konzern produziert Propylenglykol und Propylen­oxid in zahlreichen Werken auf vier Kontinenten und ist Weltmarktführer bei beiden Produkten. Michael Träxler, Leiter des Geschäftsgebiets Active Oxygens, nennt Dow einen „idealen Partner“ – nicht zuletzt ­wegen dessen Expertise bei Materialwissenschaften.

„Für uns ist wichtig, dass die neue Technologie die anspruchsvollen Qualitätsanforderungen, besonders bei medizinischen Anwendungen, erfüllt und dadurch eine wettbewerbsfähige Alternative zu bestehenden Prozessen darstellt“, sagt Meinolf Weidenbach, Technologischer Leiter bei Dow Deutschland. Vincent ­Lacoste, Direktor für die weltweiten Geschäfte mit ­Propylenoxid und Propylenglykol bei Dow, erhofft sich aus der Kooperation einen Wettbewerbsvorteil für die eigenen Produkte: „Durch HYPROSYN™ können wir ein kostengünstiges Produkt auf Grundlage einer nachhaltigen und umweltschonenden Technologie anbieten, das uns hilft, bei der Betreuung unserer Kunden fle­xibler agieren zu können.“

Sind das HYPROSYN™-Verfahren und die zugehörige Reaktortechnik reif für die Produktion im indus­triellen Maßstab, wollen Evonik und Dow sie weltweit auch an Dritte lizenzieren. So wird aus einer Idee in einer Datenbank am Ende ein einträgliches Geschäft.

HEUTIGES VERFAHREN

HYPROSYN™-VERFAHREN

Schlanker Prozess Durch das HYPROSYN™-Verfahren werden Anlagen für die Produktion von Propylenoxid frei.

Foto: Christian Lohfink/Upfront
Illustrationen: Anton Hallmann/Sepia, Maximilian Nertinger

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