VIELSEITIGER HELFER

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Kollagen spielt in der Medizin eine immer wichtigere Rolle. Die Anwendung des Strukturproteins wird jedoch wegen des tierischen Ursprungs zunehmend kritisch gesehen. Mit der Entwicklung einer Kollagenplattform auf Fermentationsbasis ist Evonik ein biotechnologischer Durchbruch gelungen, der neue Qualitätsmaßstäbe setzt.

TEXTJULIA BORN

In Shampoos stärkt es strapaziertes Haar, in Lippenstiften oder Gesichtscremes sorgt es für einen aufpolsternden, glättenden Effekt, in Kapseln und in Trinkampullen hilft es gegen erste Falten, und auch Gummibärchen sind nichts anderes als: Kollagen.

Lebensmittel- und Kosmetikhersteller verarbeiten pro Jahr mehr als 65 Millionen Tonnen des Strukturproteins. Großen Nutzen entfaltet Kollagen jedoch auch in der Pharma- und Medizintechnikbranche. Kein Wunder, immerhin ist Kollagen der wichtigste Faserbestandteil von Haut, Knochen, Sehnen, Blutgefäßen oder Zähnen. „Wir setzen es seit Jahren im Rahmen der Therapie von Knorpelschäden von Gelenken in der Sportorthopädie ein“, sagt Professor Dr. Stephan Vogt, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an den Augsburger Hessing-Kliniken und international anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Knorpelzelltransplantation. „Kollagen hilft dem Körper, sich selbst zu heilen.“

In den vergangenen fünf Jahren ist bei Kollagen die Nachfrage für medizinische Anwendungen stark gestiegen. Vor allem die regenerative Medizin mit dem sogenannten Tissue Engineering wächst rasant – und mit ihr der Bedarf an Proteinen. Das Geschäftsgebiet Health Care von Evonik beschäftigt sich intensiv mit diesem Thema und hat eine neuartige Plattform entwickelt, die die Herstellung von Kollagen mittels Fermentation erlaubt – und völlig ohne tierische Inhaltsstoffe auskommt. „Die Plattform ist ein biotechnologischer Durchbruch“, sagt Thomas Riermeier, Leiter des Geschäftsgebiets. „Sie ermöglicht eine breite Nutzung von Kollagen in ganz unterschiedlichen medizinischen Anwendungen von der Orthopädie bis hin zum Tissue Engineering.“

HOHE BIOKOMPATIBILITÄT

Rund ein Drittel der Proteine des menschlichen Körpers sind Kollagene. Insgesamt 28 Typen des Proteins
unterstützen die unterschiedlichsten Funktionen. Unser Bindegewebe besteht aus Kollagen; auch die Reißfestigkeit von Bändern und Sehnen, die Flexibilität von Knochen oder die Druckresistenz der Gelenkknorpel sind größtenteils Kollagen zu verdanken.

KOLLAGENSTRUKTUR

Kollagenmoleküle sind faserbildende Proteine, die aus drei Aminosäuren bestehen – Glycin, Prolin und Hydroxyprolin. Sie ordnen sich eng umschlungen zu einer Tripelhelix an. Durch Aggregation mehrerer Kollagenmoleküle entsteht die nächsthöhere Organisationseinheit: die Kollagenfibrillen. Die Bildung der Kollagenfibrillen erfolgt spontan im Extrazellulärraum. Kollagenfibrillen haben in verschiedenen Geweben einen sehr unterschiedlichen Durchmesser, der von 20 bis etwa 500 Nanometer reicht. So passen sich die Fasern an die Bedürfnisse des jeweiligen Gewebes an.

Dank seiner hohen Biokompatibilität eignet sich Kollagen hervorragend für orthopädische Anwendungen oder zur Wundheilung: Es kann von körpereigenen Zellen umgebaut werden und regt die Produktion von eigenem Kollagen an. Brandverletzungen etwa heilen besser mit Auflagen aus Kollagen, weil es die Zellregeneration unterstützt. Nachdem ein Zahn gezogen wurde, fördert es die Knochenneubildung. Stents für Gefäße oder Implantate werden mit Kollagen beschichtet, damit der Körper sie nicht als Fremdkörper abstößt.

Bislang wird das hilfreiche Protein fast ausschließlich aus tierischem Ausgangsmaterial gewonnen: aus Rindern, Schweinen und neuerdings auch Meerestieren wie Fisch oder Quallen. Rund 95 Prozent des in der Pharma- und Medizintechnikindustrie genutzten Kollagens stammen aus diesen Quellen; ein geringer Anteil wird aus der menschlichen Plazenta sowie Zellen der Nabelschnur gewonnen und für Forschungszwecke genutzt (siehe Kollagen: Zahlen und Fakten )

NEUARTIGES PRODUKTIONSVERFAHREN

Kollagene aus tierischen Materialien sind jedoch zuweilen problematisch. Sie können Krankheiten übertragen, zum Beispiel BSE, auch bekannt als Rinderwahn. Für viele Konsumenten oder Patienten ist das ein Grund, auf Kollagen zu verzichten. Zudem reagieren zwei bis vier Prozent der Menschen allergisch auf Kollagen, das von Rindern oder Schweinen stammt; ein ähnlich großer Anteil der Bevölkerung ist allergisch gegen Fisch und Meeresfrüchte. Studien haben gezeigt, dass der Kontakt mit tierischem Kollagen bei drei bis zehn Prozent der Bevölkerung eine Immunreaktion auslösen kann. Für Vegetarier, Veganer und Angehörige verschiedener Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Islam oder Judentum sind Produkte auf Basis von Rind beziehungsweise Schwein sowieso tabu.

Mit einem neuartigen Produktionsverfahren begegnet Evonik diesen Herausforderungen. „Unser Prozess kommt komplett ohne tierisches Ausgangsmaterial aus und erlaubt die Produktion einer gut löslichen und hochreinen Form von Kollagen, die sicher und nachhaltig ist“, sagt Andreas Karau, Leiter des Produktbereichs für Biomaterialien. Der Clou an der Technologie: Mit geringem Aufwand lassen sich unterschiedliche Kollagene herstellen – sie liefert also eine Plattform. „Damit befriedigen wir zahlreiche Marktbedürfnisse, die bislang nicht erfüllt wurden“, sagt Karau.

Forscherinnen und Forscher im Labor des Evonik-Standorts Darmstadt überprüfen die Qualität des Kollagens

Das Kollagen von Evonik wird mittels mikrobieller Umwandlung hergestellt. Dafür wird die genetische Information einer spezifischen Kollagenstruktur in Mikroorganismen übertragen, die dann in einem Fermentationsprozess in wenigen Tagen Kollagen herstellen. Während dieser Zeit wird das Kollagen in immer größeren Fermentationskesseln vermehrt, bis die gewünschte Menge erreicht ist. Die Evonik- Plattform kann heute bereits vier verschiedene Kollagentypen herstellen. „Der Prozess ist immer der gleiche, aber je nach Kundenwunsch setzen wir Mikroorganismen mit einer spezifischen genetischen Information ein und passen einige Prozessparameter an“, erklärt Karau. „So können wir genau das Kollagen erzeugen, das sich für ein bestimmtes Anwendungsgebiet besonders gut eignet.“

Wie Kollagen mittels Fermentation produziert wird

1. Kollagensequenz

Die genetische Information von Kollagen wird in Mikroorganismen übertragen, zum Beispiel Hefen oder Bakterien.

2. Mikroorganismen

Die Mikroorganismen produzieren basierend auf der übertragenen genetischen Information mittels Proteinbiosynthese das Kollagen.

3. Fermentation

Das Zellmaterial wird vom Kollagen abgetrennt und anschließend weiter aufgereinigt.

4. Reinigung

Fermentation gehört zu den Kernkompetenzen der Division Nutrition & Care und ist einer der Wachstumshebel für Evonik. Viele biotechnologische Innovationen der vergangenen Jahre basieren auf mikrobieller Umwandlung und haben in den jeweiligen Marktsegmenten disruptive Entwicklungen angestoßen. Bei fermentativ hergestellten Biotensiden zählt Evonik zu den Marktführern und arbeitet derzeit gemeinsam mit dem Konsumgüterhersteller Unilever an der nächsten Generation vollständig biologisch abbaubarer Reinigungsmittel.

Ebenfalls aus Fermentation entsteht das Omega-3-reiche Algenöl, das Evonik zusammen mit dem niederländischen Partner DSM im Joint Venture Veramaris entwickelt hat. Damit ist es erstmals möglich, Lachse in Aquakultur ohne Fischöl zu züchten. Das trägt zur Nachhaltigkeit dieser Haltungsform bei und schützt die Biodiversität in den Ozeanen.

IDEAL FÜR MEDIZINISCHE ANWENDUNGEN

„Biotechnologie erlaubt es uns, neue Produkte sehr zügig zu entwickeln und im kommerziellen Maßstab herzustellen“, sagt Thomas Riermeier. „Wir sehen im Markt für fermentativ hergestellte Produkte derzeit viel Dynamik und gehen davon aus, dass insbesondere fermentativ hergestellte Proteine künftig einen wesentlichen Teil unseres Portfolios im Bereich der Biotechnologie ausmachen werden.“

Der neue Prozess der Kollagenproduktion ermöglicht auch einen qualitativen Quantensprung. Da die Fermentation unter genau definierten Bedingungen abläuft, ist die Güte des Produkts gleichbleibend hoch. Gerade für medizinische Anwendungen ist es wichtig, dass jede Charge dieselben Eigenschaften aufweist.

»Die Kollagenplattform zeigt: Wir gehen mithilfe der Biotechnologie über die Chemie hinaus.«

THOMAS RIERMEIER, LEITER DES GESCHÄFTSGEBIETS HEALTH CARE BEI EVONIK

Der Bedarf an solchem hochreinen Kollagen in der Pharma- und Medizintechnikbranche wächst jährlich um rund sechs Prozent. 2023 soll er voraussichtlich 1,5 Milliarden US-$ betragen. Ein wichtiger Treiber ist das Tissue Engineering: „Bei der Regeneration beschädigten oder gar zerstörten Gewebes wie etwa Haut, Knochen oder Organen wird Kollagen gern als sogenanntes Matrixmaterial eingesetzt, in dem sich die neuen Zellen bilden“, sagt Andreas Karau. Lebende Zellen werden auf der Matrix wie auf einem Gerüst kultiviert, das neben Nährstoffen weitere Zusätze erhält, die das Wachstum fördern. Das Kollagen sorgt dafür, dass die Zellen in die richtige Form wachsen und ihre biologische Funktion entwickeln. Das ist besonders wichtig bei der Nachbildung von Organen im Labor.

Derzeit führt Evonik mehr als zehn In-vitro-Studien durch, um die sogenannte Biofunktionalität des neuen fermentativen Kollagens zu untersuchen. Sie sollen zeigen, unter welchen Bedingungen das Material in der Lage ist, die Kollagensynthese im Körper anzustoßen, um zum Beispiel den Heilungsprozess nach Operationen zu fördern. Außerdem werden Prozesse zur Entwicklung kollagenhaltiger Hydrogele für die ästhetische und regenerative Medizin erprobt – also etwa zur Faltenunterspritzung oder zur Wundheilung. Die Biotechnologin Maria Montero Mirabet vom Geschäftsgebiet Health Care leitet diese Studien. Sie hat die Entwicklung des neuen Kollagens begleitet und die Zusammenarbeit zwischen den Projektteams an den verschiedenen Evonik-Standorten sowie den Forschungspartnern wie dem Universitätsklinikum und dem Translationszentrum für Regenerative Therapien des Fraunhofer-Instituts in Würzburg koordiniert. „Die Produktionsprozesse haben hauptsächlich Teams in Hanau und an anderen Biotechnologie-Standorten in Europa erarbeitet, die Anwendungstests liefen beim Innovation Management in Darmstadt, dem Medical Device Competence Center in Birmingham (USA) und dem Tissue-Engineering-Projekthaus in Singapur“, so Montero Mirabet.

Ann-Katrin Kuhn, Senior Scientist im Darmstädter Labor von Evonik, testet die Anwendung von Kollagen in Zellkulturen.

Die ersten Kunden testen bereits das neue Kollagen von Evonik – als Beschichtung für Implantate, als Dermalfiller zur Glättung der Haut und in mehreren Gefäßanwendungen. Dabei können sie auf das Knowhow von Evonik in der Formulierung, Anwendung und Produktion von Biomaterialien und Arzneimitteln und die Kenntnisse des Unternehmens in der Gewebezüchtung zurückgreifen. So macht Kollagen künftig nicht nur faltenfrei und fit, sondern auch gesund.

Julia Born hat Philosophie studiert und arbeitet seit 2017 in der Marktkommunikation von Evonik. Sie leitet die Kommunikation von Health Care.

Fotos: Ollanski, Stefan Wildhirt/Evonik (3), Evonik, Karsten Bootmann/Evonik

Illustrationen: Maximilian Nertinger (5), Oriana Fenwick/Kombinatrotweiss mit Fotovorlage von Stefan Wildhirt/Evonik

ERSCHEINUNGSTERMIN

4. DEZEMBER 2020

Weltmarkt

Kollagen: Zahlen und Fakten

Wofür wird Kollagen verwendet? Was sind die wichtigsten Quellen? Und wie entwickelt sich der weltweite Umsatz?

Hände unter einer NylonstrukturVideo

Tissue Engineering

Effektive Wundheilung

Im Projekthaus Tissue Engineering arbeiten die Forscher an Materialien für künstliches Gewebe.

Impfung

Fortschritt dank Chemie

Im Interview spricht Virologe Prof. Dr. Hengel über Herausforderungen bei der Entwicklung neuer Impfstoffe.

Impfung

Sicherer Transport

Lipidnanopartikel umhüllen mRNA-Impfstoffe und ermöglichen die Passage durch die Zellmembran.

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